Schon vor Corona gab es Krisen in der Demokratie
Artikel vom
Er belegt im Ranking der einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands seit Jahren Top-Plätze, der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin. The European traf Minister Philosophie zum Gespräch und fragte: Ist die Demokratie in Gefahr und welche Rolle spielt die Philosophie im 21. Jahrhundert noch?

Inwieweit ist der bürgerliche Rechtsstaat in der Corona-Krise gut aufgestellt? Wie wird er sich künftig weiterentwickeln?
Die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Demokratien haben ziemlich klaglos die Einschränkung ihrer Grundrechte, die Einschränkung der Berufsfreiheit, Demonstrationsfreiheit und Ausgangsbeschränkungen hingenommen. Das alles sind Rechte, die massiv – bis hin zu Kontaktsperren – eingeschränkt wurden. Man konnte sich schon fast Sorgen machen, dass die Bevölkerung das toleriert, denn die Essenz der Demokratie wurde dabei infrage gestellt. Demokratie besteht ja nicht darin, dass die Mehrheit entscheidet, sondern darin, dass individuelle Rechte unabhängig davon, welchen Status die Person hat, berücksichtigt werden. Gleiche, individuelle Rechte und Freiheiten sind das normative Fundament der Demokratie.
Für die Zukunft gesehen, hängt viel davon ab, wie die weitere Krisenbewältigung abläuft. Jetzt haben wir eine deutliche Liberalisierung, die Dynamik ist bemerkenswert und geht weit über die politischen Erwartungen hinaus. Sollten neue Wellen zu gewärtigen sein, muss alles getan werden, damit wir in Europa nicht mit denselben allgemeinen Maßnahmen der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen reagieren müssen, dieser gesamtgesellschaftliche Stresstest darf sich nicht in kurzen Abständen wiederholen, dies würde das demokratische Gemeinwesen schwer beschädigen. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir spezifischer die Gruppen schützen, die gefährdet sind. Das tun wir derzeit nicht, weil gerade alte und kranke Menschen dem Infektionsrisiko in Alten- und Pflegeheimen, sogar in Kliniken besonders stark ausgesetzt waren, mit der Folge einer Verzehnfachung der Letalität von Covid-19 innerhalb weniger Wochen.
Ihr jüngstes Buch heißt „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“. Warum ist die Ratio in Gefahr?
Mir geht es nicht um eine neue Krisendiagnose. Ich beklage nicht Fehlentwicklungen, sondern richte meine Forschung darauf, was Demokratie eigentlich ist. Und da begegnet man immer wieder einem Missverständnis. Schon vor Corona gab es Krisen in der Demokratie. Sei es der Populismus von links oder rechts, sei es die Diffamierung Andersmeinender. In Italien wurden die demokratischen Institutionen durch eine populistische Regierung bis zum Sommer des vergangenen Jahres in großer Gefahr ausgehöhlt und es drohte die Machtübernahme einer Partei am äußeren rechten Rand. Dies gilt aber auch für die USA, Großbritannien, Polen und Ungarn. Eine Krisenursache ist ein falsches Verständnis dessen, was Demokratie eigentlich ist. Also dieses Verständnis, die besondere Rationalität der Demokratie zu verstehen, darum geht es mir. Viele denken, dass Demokratie sei, wenn die Mehrheit entscheidet. Das ist sie aber nicht. Auch nicht, wenn 60 Prozent eine Partei wählen, dann kann das zu einer Mehrheitsdiktatur von 60 über 40 Prozent führen. Die Demokratie ist eine Staatsform, die für alle akzeptabel ist. Akzeptabel ist sie, wenn alle wissen, dass auch die Mehrheit ihre individuellen Rechte nicht verletzen kann und sich alle im demokratischen Prozess wiederfinden. Ich spreche da von einem Konsens höherer Ordnung. Demokratie ist eine Form der Kooperation. Sie beruht darauf, dass wir solidarisch miteinander so weit sind, dass wir anderen – wie in der Corona-Krise – helfen. Ohne Sozialstaatlichkeit gibt es keine Demokratie. Individuelle Rechte und Freiheiten, gleicher Respekt und Anerkennung einerseits und Demokratie als Kooperation andererseits sind die Säulen. In diesem Gefüge spielt die Mehrheitsentscheidung eine Rolle, aber nur sofern sie diese normative Ordnung nicht sprengt.
Sie sind ein Befürworter der Globalisierung, aber wo sehen Sie auch die Kehrseite?
Es gibt unterschiedliche Formen der Globalisierung. Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg. Was beispielsweise den Außenhandel angeht, bewegen wir uns heute in denselben Dimensionen. Das wurde später nach der Weltwirtschaftskrise 1929 ff korrigiert. Was man damals hatte, war eine ungesteuerte Globalisierung, die die einzelnen Nationalstaaten in eine Abhängigkeit von chaotischen Prozessen brachte. Dies stoppte man später durch feste Wechselkurse und durch eine stabilitätsorientierte Konjunkturpolitik. Jetzt haben wir den historischen Fehler nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nochmals gemacht. Wir haben eine weit ungesteuerte, rein marktorientierte Globalisierung, insbesondere innerhalb der Finanzwirtschaft wieder zugelassen. Was wir aber versäumt haben, ist die institutionelle Rahmung zu gestalten. Das fällt uns jetzt auch in der Corona-Krise auf die Füße, weil keine Masken vorhanden waren, weil die Lieferketten abgerissen sind, weil es keine globalen institutionellen Steuerungsinstrumente gab. 2009 hatten wir ein ähnliches Desaster schon in der Finanzkrise erlebt. Dort war es ein kleiner Sektor der globalen Wirtschaft, die Immobilienhypotheken in den USA, insbesondere in Kalifornien, die zum Auslöser wurden, der die Weltgesellschaft erschütterte. Letztendlich sind es wiederum die Nationalstaaten, die die Probleme lösen müssen. Denn es kommt Hilfe weder von der Weltgesundheitsorganisation noch von der Europäischen Union. Man sieht erneut eine massive Dysfunktionalität. Wir haben eben keinen Rahmen, der im Notfall bei globalen Katastrophen rationale Entscheidungen ermöglicht.
Jede Zeit hat ihre eigene Ethik. Derzeit leben wir im Zeitalter der Digitalisierung. Sie haben ein Buch zum Thema geschrieben: „Digitaler Humanismus“. Was unterscheidet diesen vom Renaissancehumanismus?
Die menschliche Person ist Autorin ihres Lebens, das ist die Quintessenz. Der Humanismus reicht weit in die Antike und in viele Religionen hinein. Der Mensch braucht, um Autor seines Lebens zu sein, gewisse Bedingungen wie Bildung, ökonomische Selbständigkeit, rechtliche Freiheit, politisch, kulturell und sozial abgesichert, damit er Autor seines Lebens sein kann. Es handelt sich um ein Denken, das dem Menschen etwas zutraut. In der NS-Zeit gab es eine massive Propaganda gegen jede Form von Humanismus. Und das gilt bis heute, in immer neuen, manchmal bedrohlichen, manchmal eher albernen Formen: humanistisches Denken und humanistische Praxis sind immer bedroht.
Erst nach dem Krieg rückten die humanistischen Grundlagen, zusammengefasst in Artikel 1, Absatz 1, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, wieder in den Fokus. Auch die Gründerväter der Bundesrepublik wollten zurück zu den humanistischen Grundlagen unserer Gesellschaft.
Wir haben in Wellen immer wieder eine neue Gefährdung. Die digitale Transformation beinhaltet sowohl kulturell als auch ganz konkret gesellschaftlich-sozial eine Gefahr für das humanistische Fundament, weil die Autorschaft des Menschen bezweifelt wird und die Autorschaft von Softwaresystemen ins Spiel kommt, d. h., die verkehrte Vorstellung, dass diese einen Autorenstatus haben, also selbst Akteure sind, die am Ende auch zur Verantwortung gezogen werden können. So aber wird die menschliche Autorschaft abgewertet und neue Autorschaften kommen ins Spiel, die es gar nicht gibt. Und das ist der Kern des digitalen Humanismus. Er wendet sich nicht gegen die digitalen Transformationen, im Gegenteil: Wenn man Softwaresystemen einen Personenstatus zuschreibt, ist das sehr rasch das Ende des digitalen Fortschritts, weil diese Instrumente dann nicht für menschliche Zwecke eingesetzt werden können. Denn wer einen Personenstatus bekommt, kann auch Rechte einfordern. Und die Frage geht dann dahin, ob die Tierschutzgesetze auch für Softwaresysteme gelten. Wir kommen da auf eine schiefe Ebene und der digitale Humanismus wendet sich gegen diese ökonomische und kulturell gefährliche Dynamik.
Wir müssen einen europäischen Weg zwischen Silicon Valley gehen, einer rein kommerziellen Instrumentalisierung mit Transhumanismus einerseits und einer staatskontrollierten Form der digitalen Transformation wie es in China und Singapur andererseits geschieht. Wir müssen in Europa einen Weg beschreiten, der mit Menschenrechten, also mit den zentralen Werten des Humanismus verträglich ist – und das ist das Programm des digitalen Humanismus
Welche Bedeutung hat denn die Philosophie im 21. Jahrhundert noch?
Sicherlich hat die Philosophie im 21. Jahrhundert nicht mehr die Bedeutung, die sie in der Zeit in der Antike, Humanismus und Aufklärung hatte. In der Antike war sie Lebenskunst und Allgemeinwissen. Das hat sich verändert, weil sich das Spektrum der Wissenschaften verändert hat. Aber es gab in den letzten Dekaden eine praktische Wendung der Philosophie, die ihr neue Relevanz und Aufmerksamkeit verschafft hat. Seit den 70er Jahren ist sie in Form von politischer und Sozialphilosophie, aber auch in den Bereichsethiken: Medizinethik, Ökologischer Ethik, Wirtschaftsethik, Genderethik oder Ethik internationaler Beziehungen sehr präsent und dadurch für Wirtschafft, Politik und Gesellschaft interessant
Sie arbeiten immer wieder mit dem Begriff Risikoethik. Was haben wir darunter zu verstehen?
Risikoethik ist die Ethik im Umgang mit Risiken. Nach einer weit verbreiteten Vorstellung benötigt man ein Ausmaß, das man monetär bewerten kann. So agieren die großen Versicherungen mit ihren Abteilungen. Man weiß, wo Erdbeben auftreten – und man hat so eine Risikoschätzung und kann Strategien entwickeln, um das Schadensmaß zu begrenzen. Wir können viele Gefahren durch menschliches Handeln beeinflussen und die Wahrscheinlichkeit der Risiken verringern. Ethische Aspekte braucht man demnach eigentlich nicht, wir optimieren dann dieses Risikomaß. So denken die Versicherer. Aber so verständlich diese Sichtweise in der ökonomischen Praxis ist, sie erlaubt noch keine Antwort darauf, was ethisch geboten ist. Wir dürfen nicht einigen Menschen größere Risiken auferlegen, um anderen, vielleicht der Mehrheit Risiken zu ersparen. Dies wäre ungerecht und verletzt unter Umständen das individuelle Recht auf körperliche Unversehrtheit. Eine adäquate Risikoethik muss daher mit deontologischen Einschränkungen operieren, um Kriterien der Gerechtigkeit und der individuellen Rechte zu enstprechen. Wir dürfen Menschen nicht instrumentalisieren.
Streng genommen dürfen wir anderen Menschen gar keine Risiken gegen ihren Willen auflegen. Im Prinzip hat jede Person ein Vetorecht. Das aber führt in eine Aporie, denn in der modernen, technologisch verfassten, komplexen Gesellschaft sind die Risiken miteinander verbunden und räumlich und zeitlich nicht zu isolieren. Und hier setzt das Konzept meiner deontologischen Risikoethik ein. Die Risiken, die wir wechselseitig einander auferlegen, müssen aus der Perspektive jedes Einzelnen akzeptierbar sein, akzeptabel heißt Gleichbehandlung, gleicher Respekt, gleiche Rechte. Die Risikopraxis beruht im Kern auf einer hypothetischen Zustimmung, wie sie bei Thomas Hobbes schon das staatliche Gewaltmonopol gerechtfertigt hat: Jede einzelne Person hat ein Interesse daran, dass wir uns nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wir haben also alle ein Interesse, ein Gewaltenmonopol zu installieren und stimmen dem hypothetisch zu – und wenn wir halbwegs vernünftig sind – auch real. Das ist die Idee. In der Demokratie gibt es unterschiedliche Auffassungen und kulturelle Praxen und daher brauchen wir einen öffentlichen Diskurs über diese Risikopraxis, gewissermaßen einen zweiten Gesellschaftsvertrag. Damit kommen wir im Idealfalle zu einer gemeinsamen Akzeptanz. Ich weiß, dass es schwierig ist, manche Leute sind nicht bereit, sich darauf einzulassen, aber anders geht es nicht.
Wir sind derzeit im Krisenmodus. In Corona-Zeiten wurde in Italien „Die Pest“ von Albert Camus gelesen. Haben Sie einen Tipp für eine Philosophie in Zeiten von Krisen? Vielleicht die Stoa?
Die Stoa ist in einer analogen Situation entstanden, die ähnlich unübersichtlich war. Darauf gab es zwei typische Reaktionen: Aus der einen Seite war es der Rückzug in den Garten. Denke an dich, kümmere dich um dich selbst. Die Sorge um sich selbst war die epikureische Reaktion. Auf der anderen Seite gab es die stoische. Sie besagt; du bist nach wie vor in der Verantwortung für das Ganze, auch wenn du es nicht mehr beeinflussen kannst. Trage deinen Teil dazu bei, denn die Welt ist vernünftig geordnet und du bist ein Teil derselben. Dabei unterscheidet die Stoa zwischen den Dingen, die man beeinflussen kann und denen gegenüber man indifferent sein sollte, den adiaphora und den Dingen, die ich unter Kontrolle habe und dafür Verantwortung übernehme, den ta eph hemin. Meine Verantwortung ist dann nicht isoliert von der der anderen Menschen, sondern eingebettet. Dies scheint mir in der aktuellen, neuen Phase der Unübersichtlichkeit, Hellenismus als erste Form der Globalisierung, ein Ethos zu sein, das auch für heute ganz passend ist. Epiktet, ein freigelassener Sklave und Marc Aurel, der Kaiser, beide sind Vorbilder der Gelassenheit und der Selbstkontrolle im Umgang mit Konflikten und Krisen bis in den Alltag hinein.
Sie sind von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kürzlich zum Mitglied des Deutschen Ethikrats ernannt worden. Was sollte ihrer Meinung auf der Agenda stehen?
Die Politik wendet sich in heiklen Situationen an den deutschen Ethikrat. So hat Jens Spahn darum gebeten, die Frage eines eventuellen Immunitätsausweises ethisch zu evaluieren. Das ist eine gute Geste. Die Politik ist manchmal ratlos und bedarf einer ethischen Idee zur Problemlösung. Es ist gut, wenn sie sich das auch einmal eingesteht. Als Ethiker müssen wir generell zu den großen Fragen der Menschheit in kritischen Situationen Stellung nehmen. Speziell geht es zum Beispiel um die Herausforderung der Digitalisierung und den damit verbundenen rechtsethischen Fragen. Aber andere Themen wie der Klimawandel und die Nachhaltigkeit sind auch in Corona-Zeiten nicht vom Tisch. Sie werden stärker als je zuvor zurückkommen, weil man jetzt sieht, was möglich ist, was man verändern und wie ein Neustart in der Ökonomie nachhaltiger sich gestalten lässt. Das sind große Themen, denen ich mich gern stelle.
Das Gespräch führte Stefan Groß