Das Genie feiert seinen 250. Geburtstag
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Er war genial, zu Lebzeiten verkannt und sein Ruhm sollte sich erst nach seinem Tod einstellen. Doch Friedrich Hölderlin, vor 250 Jahren in Lauffen am Neckar geboren, wurde einer der wichtigsten deutschen Dichter. Wir betreten ehrfürchtig seine Spuren, begeben uns auf eine Entdeckungstour durch sein Leben und seine Kunst, die später ganze Generation in ihren Bann ziehen wird.

Zu Lebzeiten verkannt, der „Hyperion“ floppte, doch Hölderlin kämpfte. Er kämpfte gegen die Zerrissenheit der Welt, gegen den Dualismus und die Knechtschaft der Unfreiheit. Er träumte von einem neuen Götterhimmel und einem Universalreich der Poesie, das die Welt in einen ewigen Frühling führt. Dieser Hölderlin, der vor 250 Jahren geboren wurde, ist durchaus eine moderne Existenz. Hin- und hergetrieben auf der Suche nach dem eigenen Selbst, dieses genauso überwindend wie setzend. Darin bleibt er der Ästhetiker, dem die Poesie alles werden sollte: genialischer Sinnentwurf und poetische Überwindung der Wirklichkeit.
Jede Zeit hat Höhen und Tiefen, in denen sie manchmal mit Intellekt spart und die Ebenen mit Grausamkeiten und Blut überzieht, in denen sie aber manchmal geradezu Geist gnädig verschenkt. Eine komprimierte Zeit der Intellektuellen war das Deutschland von Aufklärung, Klassik und Romantik mit ihren Zentren in Tübingen, Heidelberg, Weimar und Jena. Geistesgeschichte pur, Zeit “vollendeten Wissens”.
Die Veränderung der Welt
Während einst in der Antike geistige Superstars wie Sokrates, Platon oder Aristoteles einer zweitausendjährigen Geschichte ihr Siegel aufdrückten, die die kommende Weltgeschichte quasi in einer Fußnote behandelte, wie Alfred North Whitehead schrieb, war das Jahr 1770 ein ganz besonderes für den Geist der Philosophie und der Ästhetik. Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel werden es sein, die die Zeit, die Welt und die Geschichte verändern.
Kant weiterdenken
Es war ein großartiges Jahrhundert – durchaus ebenbürtig der Antike, der Renaissance und dem Mittelalter samt seinen Scholien und Kommentaren. Lessing hatte für mehr Toleranz unter den Religionen geworben, Immanuel Kant die Fackel der Aufklärung von David Hume und John Locke endgültig entzündet und Johann Gottlieb Fichte das absolute Ich zum Ausgangspunkt aller Philosophie gemacht. Der Königsberger Kant war Markstein, Quelle und Überbietungsanspruch zugleich, denn mit seinem wohlbekannten „Ding an sich“, der immanenten Unerkennbarkeit der Welt oder Gottes, wollte man sich nicht zufrieden geben. Kant und Fichte galt es gleichermaßen zu überbieten. Darauf hatten sich die Tübinger Jugendfreunde Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel eingeschworen. Ihre gemeinsame Schrift war Programmansage. „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ist nichts anderes als der Entwurf kantischer Überbietung. Eine „unsichtbare Kirche“ wollten sie gründen, eine Kirche der Liebe gegen die kategorische Macht des Imperativs der Pflicht stellen. Ein Pendant zu Kants negativer Naturphilosophie galt es zu finden – und selbst das Absolute oder Göttliche sollte nicht als ein „Also ob“ wieder Einzug finden im Geist der deutschen Idealisten. Eine Revolution der Denkungsart sollte es sein – und Hölderlin schickte sich an, dieses Projekt eigenständig zu verwirklichen.
Eine fast romantische Existenz
Genial, begabt, jugendlich anmutig von äußerer Gestalt, ein Adonis gleichermaßen, erblickte der Dichter der Einsamkeit, der Natur und des Göttlichen vor 250 Jahren am 20. März in Lauffen am Neckar das Licht der Welt. Von Selbstermächtigung einerseits, von tiefen Selbstzweifeln andererseits angetrieben, war Hölderlin ein Temperament, das zwischen Euphorie und tiefer Leidseligkeit nebst Weltanklage litt und schwankte. Eine fast typische romantische Existenz könnte man meinen, wenn er im Augenblick Glückseligkeit atmete und auch dann, wenn er in den Wirren der inneren Existenz zum Philosophieren neigte. Doch Romantiker war Hölderlin nie, Kunst war für ihn nie bloßes „Ereignis“, Happening und „Universalpoesie“ wie einst für Friedrich Schlegel nie die bloß heitere Geselligkeit. Kunst wird für ihn vielmehr zum „Existential“, wie es Martin Heidegger später denken wird.
Als Mensch ein Einsamer
Als Mensch bleibt Hölderlin ein Einsamer, ein Steppenwolf, der die Tiefe des Geistes in sich auslotete, der aber genauso lebensbegierig und trinkfest wie die übrigen Tübinger Stiftler sein konnte, durchaus gesellig, doch dies alles auf Zeit, auf begrenzte Dauer. Zeit war in erster Linie Lebensinnenzeit, die Durchmessung der Seele in ihren Tiefen und Höhen, in ihrem kurzweiligen Glücksrausch und erlauchten Liebesgefühlen, die aber in ihrer Dialektik immer wieder ins Gegenteil verfiel. Euphorie und gesteigertes Glückgefühl einerseits, die beide aber nur im Augenblick zu haben waren, wechselten mit der größten erdenklichen Schwermut andererseits. Eine brüchige Existenz ist Hölderlin gewesen und war damit durchaus modern.
Die Idee der Humanität
Hölderlin, der Dichter der Schwaben, der wie Friedrich Nietzsche erst posthum Weltruf genießen sollte, hatte es nicht leicht mit sich und der Welt, an der er litt, weil diese eben nicht so vollkommen wie die gelobte Antike war, weil sie so sehr im Gewöhnlichen und Unmenschlichen, in Knechtesgeist und Unfreiheit siedelte und so voller Ungerechtigkeiten und fern der unendlichen Idee des Humanums war. Nie sollte er glücklich sein durch Liebe in dieser Welt der „Götterferne“. Der Dualismus der Welt machte ihn krank, trieb ihn zu Spinozas Pantheismus und Friedrich Schillers großartiger sittlicher Ästhetik. Dem revolutionären Denker des Sturm und Drangs, dem feinsinnigem Marbacher Dichter Schiller, dem Geschichtsphilosophen und der Verfasser der Erziehungsbriefe, dem Ästhetik zur Bürgerpflicht und eine Ästhetisierung der Gesellschaft als Ideal vorschwebte, war Hölderlin innig verbunden. Wie das große Vorbild Schiller suchte auch er die Menschheit nicht durch pure Pflicht zu verbessern, sondern durch eine Synthese von Ethik und Ästhetik.
Schiller und Hölderlin – Liebe und Ambivalenz
Schiller, der Hölderlin oft „das ist mein liebster Schwabe“ nannte, galt als Idol der Freiheit im pietistischen Schwaben und stellte zugleich den Gegenentwurf zum absoluten Monarchismus des württembergischen Regenten dar. Hölderlin wird ihm hier folgen, wenn auch er sich inbrünstig zu den Idealen der Französischen Revolution bekennt. Hölderlin, der gemäßigte Jakobiner und Republikaner, wird aber dann von Schiller weichen, wenn dieser die Moderne als das bestimmen wird, das nicht mehr ins Arkadische zurück kann. Doch gerade dieses Elysium der Götter Griechenlands wird der Lauffener wieder mit seinem Dionysios beschwören, den rasenden, baccantischen Gott, der 100 Jahre vor Nietzsches Dionysioskult bei Hölderlin als der Gott des Werdens gilt, der ins Offene treibt.
Der neue Schlachtruf Hen kai Pan
Und Hölderlin will sie wiedererrichten, die alte Welt, die ins Unendliche greift, sei es in Gott, in der Natur oder in der Poesie als Weltentwurf. Und er sucht die Verbindung von Endlichkeit und Unendlichkeit, er dichtet sie neu, um den Dualismus, das Zerrissene und Getrennte in einer qualitativ neuen Einfalt zu finden. Diese findet er im Hen kai Pan (Eins und Alles) der Antike, die ihm aber des Öfteren in den Händen zerbrechen wird. Der Schlachtruf gilt dem alten Griechenland, dem Elysium am Peloponnes.
Das Ich ist mehr als das von Fichte
Raus aus der philosophischen Isoliertheit des Ich, weg von Fichtes absoluten Ich als Prinzip aller Philosophie – darum geht es Hölderlin, der mit seiner Alleinheitslehre Spinoza, mit seinem Naturbegriff Rousseau folgen wird. Statt sich setzender Ich-Philosophie, die für Hölderlin letztendlich im Nichts kulminiert, wird er den Begriff der intellektuellen Anschauung stellen. Allein diese Unmittelbarkeit steht für die intensivste, moralisch-erotische und erkenntnistheoretische Einheit des Subjektiven und des Objektiven. Die intellektuelle Anschauung ist das unmittelbare Wissen in seiner absoluten Reinheit, die aber nur die eine Facette von Welterkenntnis sein kann, deren andere die permanente Überschreitung des subjektiven Bewusstseins ist. Nicht das Ich wird so zum Prinzip der Philosophie, sondern das „Ich“, das per Poesie eine bessere Welt errichtet, ein Himmelreich auf Erden stiftet und dieses um die natürliche Religion und den Volksgeist erweitert.
Die Suche nach dem absoluten Seyn
Dieses Absolute, für Hölderlin bleibt es unbestimmt, aber er nennt es Gott, das intuitive Empfinden der Natur und die Unendlichkeit gilt es aufzurichten, allein durch die poetische Kraft der Worte. Das Wort und Hölderlins moderne Sprache stiften Realität und was bleibt, stiftet nicht der Denker, sondern eben der Dichter, der die Welt erschafft, wenn er die Sprache denkt oder dichtend die Welt erfindet. Die universale Einbildungskraft, die poetische Empfindung wird ihm jenseits von jedweden „Urtheil“ zur sinngebenden Kraft des bergenden Seins. Und dieses absolute Seyn wird nicht durch den spaltenden Verstand geschieden, der zu Trennung und Vereinsamung führt, sondern allein durch die poetische Intuition wird die Wirklichkeit erfasst. Wo Subjekt und Objekt vereinigt sind, ist Seyn in absoluter Vollendung. „Die seelige Einheit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mussten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Hen kai Pan der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst. Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all unseres Strebens. “
Jenseits von aller Trennung muss Einheit sein
Und nach diesem greift Hölderlin in allen Phasen seines Lebens mit zaghafter und dennoch bestimmender Hand. Einheit, Versöhnung und Harmonie werden die Ingredienzien eines Denkens, dem es um Objektivität geht, der das Göttliche im Menschen sucht und das Menschliche im Göttlichen. Wo sich Unendliches und Endliches berühren, da verliert das Zweifeln seine tragische Kraft, zeigt sich die höchste zu erbringende Einheit, die sich durch die Negativitäten des Daseins manövriert hat und in der sich die höchste Stufe freiheitlicher Vollendung zum Ausdruck bringt. Doch nur jenseits der Zeit vermag sich dieses Ereignis zu manifestieren, aber dieses immer wieder – jenseits der Trennung von Natur und Kultur – an-zudichten bleibt das höchste anzustrebende Ziel.
Freiheit als spontaner Akt der Poesie
Ein Reich der Freiheit, der innerlichen wie der republikanischen zugleich zu errichten, eine „unsichtbare Kirche“, wie sie sich die Tübinger Freunde Schelling, Hegel und Hölderlin erträumten, wollte der Lauffener errichten, eine, wo die Kerze der Freiheit das Licht entzündet und Freiheit zum A und O aller Kunst wird.
Freiheit als spontaner Akt des Schöpferischen wird für Hölderlin aber eben nicht philosophisch erdacht, sondern poetisch vollzogen, denn es bleibt die Poesie, die die Wirklichkeit stiftet. Poesie, und so will sie Hölderlin dichten, ist nicht Welt abbildend, sondern Welt erschaffend. Und was der Philosophie scheinbar nicht gelingt, vermag wie im „Hyperion“ die Poesie. Sie allein ist mächtig genug, die Trennung des Daseins zu überwinden und die Seynsverbundenheit erreichen. Oder anders formuliert: Das Seyn, das Hölderlin meint, ist das Reich der Schönheit und im künstlerischen Schaffen vereinigt sich Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Durch dieses freie Spiel der Kräfte im Menschen eröffnet sich die Möglichkeit der Schönheit. Hier überwindet der Künstler die Kluft zwischen „Urtheil“ und „Seyn“ und erfährt sich in inniger Seinsverbundenheit. Letztendlich als Akteur, der die Wirklichkeit gestaltet, der „tätig“ die Welt verändert, wie es schon in Goethes „Faust“ hieß.
In der Ästhetik, in der Kunst des Schönen, verbinden sich Politik, Religion und Philosophie. Die Kunst wird idealisch. Doch diese Kunst treibt ewig ins Offene, in die Weite und Zukunft. Sie bleibt ein Sehnsuchtort mythologisch-poetischer Erfindung. Sie zu stiften ist die Aufgabe der Dichter.
Dem Ende entgegen
Ein „Himmelreich“ auf Erden gibt es für Hölderlin ebenso wenig wie später für Heinrich Heine, denn das Dasein ist und bleibt der Ort der Differenz, dieses auch zu ertragen. Man nennt es Schicksal. Dieses Nich-bei-sich-Selbst-Sein ist es, was Hölderlin nicht erträgt und wo er höchst selbst scheitern wird. Ausgerechnet nach den Jahren höchster Blüte und Vollendung, nach 1801-1802, also der Phase der produktiven Schaffenszeit, bricht er später Friedrich Nietzsche in Turin zusammen. Hölderlin ist geistig erschöpft, ausgemergelt. Die Autenriethischen Kliniken in Tübingen werden ihm vorerst Heimat. Später wird es der berühmte Dichterturm am Neckar sein, wo er nach 37 Jahren – wach, aber sich selbst entfremdet, ichlos einerseits, in hybrider Selbststeigerung andererseits am 7. Juni 1843 stirbt.
Jenseits der Subordination
Hölderlin wollte – wie auch Georg Friedrich Wilhelm Hegel nicht – Priester der Orthodoxie, der Subordination und der Theologie werden. Das Wagnis des Lebens besteht für ihn vielmehr in der An- und Abwesenheit der Götter, im Sich-Verbergen und Ent-Bergen. Diese Differenz wollte er in eine neue Synthese überführen. Er wusste aber, dass sich diese nur im Augenblick oder in der Zukunft, in der Offenheit ereignet. Mit der realen, mit der entzauberten Welt, in der er lebte, aber wollte sich Hölderlin nicht abfinden. Gegen sie kämpfte er mit aller Inbrunst und verzweifelten Leidenschaft. Letztendlich aber ist er an ihr gescheitert.
Wie modern ist Hölderlin?
Hölderlin ist insofern modern, weil auch er wie viele Seelen im heutigen 21. Jahrhundert, im Selbstbewusstsein einen Abgrund sieht, ein Nichts, das nicht im Stande ist, sich nach neuen rettenden Ufern umzusehen. Gründe dafür gibt es für den Elegiendichter von „Brod und Wein“ viele: Differenzerfahrungen begreift er als etwas höchst Existentielles, die das Leben herausfordern, vorantreiben, aber dennoch ewig in die Saiten des Schicksals greifen und tiefe Gräben und Narben in der Seele hinterlassen. Der Mensch als Bild des Göttlichen oder als Teil der Nation arbeitet sich an diesen Ideen unermüdlich ab, blickt in den Götterhimmel, verehrt glühend das Nationale, verliert sich aber dennoch im Kampf um seine Ideale. Die Kunst, die Hölderlin als eine produktive Kraft begreift, die nicht um ihretwillen geschieht, sondern den Menschen im Dienst der Freiheit zur Sittlichkeit erzieht, verliert im neoliberalen Kapitalismus zunehmend an Bedeutung, weil sie nicht Kapital akkumuliert, sondern ein freies Spiel der Geister bleibt und damit nicht verrechenbar.
Liberaler Weltentwurf
Hölderlins Vision bleibt eine freie Menschheit, wo Individuum und Gesellschaft, wie einst bei Schiller ineinander spielen, wo Kunst als Imperativ der Freiheit den neuen Menschen hervorbringt, der den Idealen der Französischen Revolution und des liberalen Weltentwurfs zugeneigt ist. Hölderlin wäre sicherlich heutzutage ein Verfechter des Grundgesetzes und der „Charta der Vereinten Nationen“. Ein Mensch, der auf freier Erde steht und die Schöpfung zu bewahren sucht. Er wäre ein Naturfreund, ein ökologischer Denker, der die Natur nicht auf ihre bloße Materialität verkürzt, sondern diese als eine unendliche Kraft verstehen würde, die nicht vernutzt und ausgebeutet werden darf, sondern die liebevoll zu umhegen und zu pflegen sei.
Damit wäre Hölderlin heute einerseits ein „Grüner“, aber andererseits auch ein Konservativer. Er will bewahren, ohne dogmatisch zu sein. Er sucht aus der Geschichte heraus in die Zukunft zu greifen, ohne die Menschheit besserwisserisch zu belehren und zu bevormunden. Er will den Menschen vielmehr dazu anstiften, das Bessere zu tun und moralisch-praktisch tätig zu werden.
Der Text erschien zuerst am 17. Januar 2020.