„Alexa“ wird uns keine Antworten auf unsere drängendsten Fragen geben können
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Mehr Nähe statt Distanz und Remote-Work wird nach der Krise das System der Zukunft prägen, meint der Manager und Unternehmer Julian Henco.

Deutschland braucht seine Mittelstands AG
In Deutschland wird wieder diskutiert. Die Krisenmodus neigt sich dem Ende zu und diejenigen, die eine an Kenn- zahlen orientierte Lockerung des Lockdowns befürworten und durchsetzen, nimmt zu. Als Mitglied dieser Gesellschaft und als Manager begrüße ich das. Ich habe, was die Folgen der Krise anbelangt, allerdings Zweifel an dem, was allgemein als Konsequenz geschildert wird: Ich sehe nicht, dass Arbeiten auf Distanz, das sogenannte Remote-Work, für uns das System der Zukunft ist. Und ich glaube genauso wenig, dass nach der Krise allein den großen digitalen Handelsplattfor- men die Zukunft gehört. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, es geht künftig um mehr Nähe. Es geht um den persönlichen Austausch. Und „Alexa“ wird uns keine Antworten auf unsere drängendsten Fragen geben können.
Wenn wir etwas aus der Corona-Krise gelernt haben, dann das: Wir sollten anspruchsvoller werden, was unsere Sicher- heit und Gesundheit anbelangt. Die Sicherheit unserer Lieferketten sollte Vorrang haben, auch wenn eine geänderte Struktur mehr kostet, als der Weg über Billiglohnländer. Es ist oft schwieriger, Dinge einfach zu machen, als sie aufwen- dig zu gestalten. Aber genau das ist es, was wir nach dieser Krise anpacken können. Wir können der Unübersichtlichkeit Einfachheit und damit mehr Eindeutigkeit entgegensetzen. Wir können uns anstrengen, der Anonymisierung mit Persönlichkeit zu begegnen. Wir müssen im Mainstream Individualität zeigen. Die Zukunft gehörte noch nie allein den Herdentieren, sondern das Rudel Wölfe hat auch schon immer mitgespielt. Die Zukunft gehört nicht allein Amazon oder seinem chinesischen Pendant Tencent, sondern sie gehört auch den Spezialisten. Und es könnte sein, dass dieser Weg die Wirtschaft in diesem Land, in eine sicherere Zukunft führen wird, als die inzwischen ausgetretenen Pfade, auf denen die Digitalisierungspilger wandeln.
Ich möchte diese These mit einem Beispiel aus meinem Umfeld untermauern. Ich leite einen mittelständischen Betrieb mit 1000 Mitarbeitern im Sauerland. Wir machen seit bald 100 Jahren Küchen – und Badarmaturen und zählen zu dem, was in Deutschland gern Rückgrat der Wirtschaft genannt wird: der Mittelstand. Unsere Strategie ist, unser Sortiment aufs wesentliche zu reduzieren. Der Fachgroßhandel hält ständig etwa 60 000 Badzubehörartikel auf Lager. Vom Einhandmischer bis zur Schlauchschelle. Das ist total unübersichtlich. Wir dagegen setzen auf Eindeutigkeit und nur noch auf zwei Sortimentskategorien. Die eine erfüllt den rein funktionalen Nutzen, die andere ist designorientiert. Es hat gedauert, bis der Handel, unsere Kunden und sogar unser eigener Vertrieb diese Strategie gutgeheißen haben.
Während der Krise, wo alles unsicher geworden ist, haben alle den Wert der Eindeutigkeit begriffen. Dabei geht es für uns nicht nur darum, zu wissen, wohin unsere Produkte gehen, um die Ersatzteilversorgung und Lieferfähigkeit sicherzustellen. Es geht um mehr. Es geht darum, was die Wirtschaft in Europa und insbesondere in Deutschland ausmacht. Der wirtschaftliche Kern unseres Landes besteht nämlich nicht aus jenen 100 Großkonzernen, die international unterwegs sind und von San Francisco bis Shenzen alles liefern und jeden erreichen. Der wirtschaftli- che Kern hierzulande bildet vielmehr der Mittelstand: 2,5 Millionen Firmen zählen laut statistischem Bundesamt zu den kleinen und mittelgroßen Unternehmen, 61 Prozent aller Beschäftigten arbeiten hier und knapp die Hälfte der Bruttowertschöpfung stammt von Unternehmen dieser Größenordnung. Es sind Unternehmen wie unseres mit Men- schen, die ihr Handwerk gelernt haben: Der Fach-Händler, der rund um die Uhr liefert, weil er einen großen Vorrat angelegt hat, der Spezialist, der Ausbildung und Erfahrung mitbringt, der ehrbare Kaufmann, der seine Kunden genau kennen möchte, weil er sie auch morgen noch beliefern will. Wir alle nennen uns Mittelständler und sind die erfolgreichste Community in diesem Land.
Wir sind die Mittelstands-AG. Wir alle wissen, dass wir zusammenhalten müssen. Dies gilt in normalen Zeiten und in Krisenzeiten sowieso. Man kennt sich. Wir vertrauen uns, wir wissen, was wir voneinander zu halten haben, und wir überzeugen mit unserer Haltung und unserer Qualität andere von unseren Produkten und Dienstleistungen. Die Nähe, die wir zueinander aufgebaut haben, ist unsere Chance.
Natürlich wird es weiter weltweite Online-Vertriebe über digitale Plattformen geben, und es ist auch keine Frage, dass diese Vertriebs- und Handelsplattformen wachsen und ihre Berechtigung haben. Sie haben vieles einfacher und transparenter gemacht. Ich glaube nur, dass auch deren Wachstum endlich ist, und ich glaube daran, dass daneben Platz ist für eine andere Form des unternehmerischen und kaufmännischen Denkens. Eben eines, das die Digitalisierung im Griff hat, aber gerade deswegen von Persönlichkeit und Individualität geprägt ist. Und je mächtiger der Mainstream ist, der alles Richtung digitalen Vertrieb über Plattformen, die nicht dem Hersteller gehören, steuert, desto kraftvoller stellt sich die Gegenbewegung der Spezialisten auf. Hierin liegt unsere Chance nach der Krise.