Im 21. Jahrhundert sollte die Liebe atmen lernen. Bisher wurde sie auf das Einatmen festgelegt: Immer romantisch sein, bloß keine Konflikte, nur Harmonie und Verständnis. Das Ausatmen ist der Alltag. Ihn zu akzeptieren, ist die Voraussetzung dafür, leidenschaftlich auch wieder einatmen zu können.
Für moderne Menschen ist klar: Die Liebe soll glücklich machen. Aber was ist Glück? Jede Liebe ist zunächst angewiesen auf das Zufallsglück. Zufälligerweise bin ich in diesem Moment an diesem Ort, zufälligerweise ein Anderer auch, sodass ein Funke überspringen kann. Solche Zufälle können nicht produziert, immerhin jedoch provoziert werden.
Man nehme: Dreifaches Glück …
Sollte das Zufallsglück tatsächlich günstig ausfallen, heißt das allerdings nicht, dass dies auch so bleibt. Der günstige Zufall verbessert nur die Bedingungen für das Zustandekommen einer Beziehung, verschlechtert aber häufig die Bereitschaft zur Arbeit an ihr, da das Glück vermeintlich bereits da ist.
Haben zwei sich schließlich glücklich gefunden, muss ein zweites Glück in der Liebe fraglos das Wohlfühlglück sein: Die Liebenden können sich miteinander wohlfühlen, Freude aneinander haben, sehr viel Sinnlichkeit gemeinsam genießen, Verständnis und Geborgenheit beieinander finden. Dies vorsätzlich zu suchen, gehört zur Arbeit am Glück in der Liebe. Denn anders als das Zufallsglück kann das Wohlfühlglück nicht nur provoziert, sondern auch produziert werden.
Soll die Liebe von Dauer sein, ist jedoch ein drittes Glück nötig: Das Glück der Fülle. Gemeint ist die gesamte Fülle der Erfahrungen, positive wie negative. Freude und Ärger beispielsweise. Auch für dieses Glück kann Jede und Jeder selbst etwas tun. Es hängt von der geistigen Haltung ab, die sie oder er im Denken gewinnt. Ausgehend von der Frage: Was ist charakteristisch für das Leben und die Liebe? Ist es nicht die Polarität, die Bewegung zwischen Gegensätzen, die sich in allem zeigt? Erscheinen mir das Leben und die Beziehung in aller Polarität dennoch bejahenswert?
Dann ist ein Glück möglich, das atmen kann, sodass ich nicht mehr verkrampft an schönen Zeiten festhalten muss, die nicht vergehen dürfen, sondern auch die anderen Zeiten des gemeinsamen Lebens hinnehmen kann.
… sowie den Sinn der Liebe …
Das dreifache Glück ist wichtig für die Liebe, am wichtigsten aber ist, dass sie eine starke Erfahrung von Sinn vermittelt. Sogar dann können Menschen Sinn in der Liebe finden, wenn sie unglücklich sind. Sinn ist Zusammenhang, und für einen starken Zusammenhang sorgt die Bindung zwischen Zweien: sich mit unterschiedlichen Stärken wechselseitig zu beschützen und gemeinsam stärker zu sein, als einer für sich allein. Liebe ist nicht die einzige Methode, Sinn zu finden, aber eine sehr wirksame. In unserer Epoche wird sie zur großen Sinnstifterin: Der Sinn der Liebe ist die Schaffung von Sinn.
Auf mehreren Ebenen können die Liebenden Sinn miteinander erleben: körperlich, seelisch, geistig und transzendent. Je nach der Deutung, von der die Liebenden sich leiten lassen, kann ihre Liebe einzelne oder mehrere Ebenen bespielen, und nur sie selbst können die Frage beantworten, was grundlegend sein soll. Eine große Schwierigkeit der Liebe liegt darin, dass die Bedürfnisse der Liebenden nicht immer auf derselben Ebene liegen. Die Liebe neu erfinden, das ist gleichbedeutend damit, die Liebe auch zwischen den verschiedenen Ebenen atmen zu lassen.
… und eine große Prise Wohlwollen.
Wenn ich auf einen einzigen Nenner bringen soll, was ich in den vielen Jahren der Arbeit über die Liebe gelernt habe, dann dies: Dass sie unter Bedingungen der modernen Zeit auf ein großes Wohlwollen angewiesen ist, das zwei einander entgegenbringen, sonst geht gar nichts mehr.
Wurde die Bindung zwischen Zweien einst von außen, von Religion, Tradition und Konvention gewährleistet, auch erzwungen, muss sie heute von innen kommen, und dabei geht es nicht immer nur um Gefühle: Liebe ist zu einer Entscheidung geworden, die jeder Einzelne für sich treffen muss.