Erstaunt reibt man sich die Augen, wie viele sich hierzulande über den russischen Überfall auf die Ukraine wundern. Ihr russischer Amtskollege Lawrow habe sie einfach angelogen, entrüstet sich beispielsweise unsere Außenministerin. Tja, Frau Baerbock, so etwas soll’s tatsächlich geben…
Eins: Der brutale Neo-Zarismus
Der jetzige Ost-West-Konflikt ist doch nicht neu, er begann spätestens 2008 mit dem Georgienkrieg und kulminierte 2014 mit der Annexion der Krim, woraufhin Russland aus der Gruppe der acht wichtigsten Nationen ausgeschlossen wurde und die G8 wieder zur G7 schrumpfte.
Die Beweiskette für den brutalen Neo-Zarismus des Vladimir Putin ist lang. Die Journalistin Anna Politkowskaja hatte kritisch über Kriegsverbrechen der Russen im Tschtschenien-Krieg berichtet. 2006 wurde sie vor ihrer Wohnung ermordet. Es war nur ein Fall in einer ganzen Serie von Mordanschlägen, die auch auf deutschem Boden spielten. Der Berliner Tiergartenmord ist erst zweieinhalb Jahre her. Und nur anderthalb Jahre sind vergangen, als die Charité im letzten Moment das Leben des Regimekritikers Alexei Nawalny retten konnten, der Opfer eines Giftanschlags war.
Auch die subversive Medienarbeit der Russen hätte uns längst schon größere Sorgen machen müssen. Wenn in einem deutschen Polizeirevier zwei Beamte auf einer Weihnachtsfeier das falsche Liedgut anstimmen, gehen Entrüstungswellen durch Politik und Medien. Die massiven Desinformationskampagnen, gesteuert aus Putins Reich, wurden bisher jedoch irgendwie hingenommen. Beispielsweise ist der Einfluss von RT Deutsch auf die rechte Szene erheblich. Hätte der dauerbeschworene „Kampf gegen Rechts“ nicht da anfangen müssen? Auch Russlands digitale Einmischung in die Wahlkämpfe in westlichen Demokratien ist bewiesen. Vor dem Ukrainekrieg hatte der Cyberwar längst begonnen. Kurzum, es ist ein Zeichen grenzenloser Naivität, wenn man tatsächlich erst jetzt erkennt, mit wem wir es in Moskau leider zu tun haben.
Zwei: Der strukturelle Pazifismus
Peinlich naiv auch unsere Einstellung zur Verteidigungspolitik. Es kann nur dem strukturellen Pazifismus der Deutschen geschuldet sein, dass wir die Bundeswehr derart verkommen ließen. Wenn der Regierungschef der stärksten Volkswirtschaft des Kontinents bekennt, er wünsche sich eine Armee, in der die Flugzeuge fliegen und die Fahrzeuge fahren können, dann ist das nicht weniger als ein Offenbarungseid. Natürlich hat CDU-Chef Merz recht, wir stünden vor einem „Scherbenhaufen unserer bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik“. Allerdings war das Verteidigungsministerium die zurückliegenden 16 Jahre immer in Unions-Hand, und, wichtiger noch, die Richtlinienkompetenz hatte eine CDU-Kanzlerin. Die SPD ist genauso wenig frei von Schuld, schließlich hat sie im zurückliegenden Vierteljahrhundert mit Ausnahme von gerade einmal vier Jahren immer regiert bzw. mitregiert. Die jetzt beschlossenen 100 Milliarden Nachrüstung für die Bundeswehr markieren jedenfalls den Willen, sich endlich vom Ohne-Mich zu verabschieden.
Drei: Energiepolitische Naivität
Innen- und parteipolitisch besonders heikel wird es, wenn es jetzt darum geht, unsere energiepolitische Naivität aufzugeben. 35 Prozent unseres Rohöls, 50 Prozent unserer Kohle und 55 Prozent des Erdgases beziehen wir derzeit aus Russland. Wäre Northstream 2 zustande gekommen, hätten wir sogar 70 Prozent sibirisches Gas in unseren Leitungen gehabt .
Das Ende der energetischen Russland-Abhängigkeit macht aus dem Kernstück des noch ziemlich druckfrischen Koalitionsvertrags schlagartig Altpapier. Woher soll der Treibstoff für die Gaskraftwerke, die ja als Brückentechnologie hin zur klimaneutralen Republik nötig sind, denn kommen? Die Vorstellung nur mit Wind- und Sonnenenergie möglichst bald autark sein zu können, ist nicht mehr naiv, sondern einfach nur töricht. Selbst wenn der Bedarf an elektrischem Strom auf dem heutigen Stand bliebe, würde jede Dunkelflaute das Land von Blackout zu Blackout führen. Und wo dereinst die Energie für einen elektrifizierten Massenverkehr und eine dekarbonisierte Industrie herkommen soll, war schon vor der jetzigen Zeitenwende ein Rätsel.
Nach dem Bruch mit unserem wichtigsten Energielieferanten muss die gesamte Energiewende neu verhandelt werden. Im Dezember diesen Jahres beispielsweise die drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerke, wie beabsichtigt, vom Netz zu nehmen, wäre schlichtweg – naiv.