Das Problem am „Homo oeconomicus“ ist schlicht: “Es gibt ihn nicht,”:http://www.theeuropean.de/dan-ariely/7790-der-irrationale-mensch es hat ihn nie gegeben. Und da er nicht existiert, kann er auch nicht verantwortlich sein für die Wirtschaftskrise. Schuld sind schiere Profitgier, aberwitzige Wetten, unkontrollierbare Finanzinstitutionen und die Hilflosigkeit der Politik. Der „Homo oeconomicus“ ist ein Papiertiger – nichts mehr als eine vermutlich falsche Theorie über menschliches Handeln.
Dieses Schicksal teilt er mit einem anderen prominenten Rationalitätsmodell. Nennen wir es „Homo kantiensis“. Das Modell des „Homo oeconomicus“ hat die Wirtschaftstheorie in die Irre geführt, die Kant’sche Ethik womöglich weite Teile der Moralphilosophie und der politischen Theorie.
Auf den ersten Blick könnte der Kontrast zwischen beiden kaum größer sein. Der „Homo oeconomicus“ handelt aus Eigeninteresse, „Homo kantiensis“ hingegen aus hehrer Pflicht – aus „Achtung fürs Gesetz“. Auf der einen Seite steht utilitaristische Nutzenmaximierung, auf der anderen die universelle, unparteiliche Vernunft.
Doch beide Modelle gehen aus von einem streng rationalen Akteur. Was in der klassischen Mikroökonomie widerspruchsfreie Präferenzen sind, das ist bei Kant der rationale Wille. Wirklich frei ist eine Handlung nur dann, wenn sie von unseren Wünschen und Neigungen unabhängig ist. Schließlich unterscheiden sich Neigungen von Mensch zu Mensch, für Kant beruhen sie auf unseren natürlichen Trieben.
Als rationale Wesen haben wir aber die Fähigkeit, hinter unsere Wünsche zurückzutreten und nach vernunftbestimmten Maximen zu handeln, von denen wir wollen können, dass auch alle anderen sie akzeptieren. Auch „Homo kantiensis“ ist ein „Maximierer“: Statt nach maximalem Nutzen strebt er nach maximaler Vernünftigkeit.
Das ist nicht weniger realitätsfern als das Modell des „Homo oeconomicus“. Das ökonomische wie das moralische Handeln wird maßgeblich bestimmt durch nicht rationale Motive. Wie verhaltensökonomische Experimente gezeigt haben, maximieren Menschen unter bestimmten Umständen nicht einfach egoistisch ihren Nutzen, sondern streben nach Fairness, Kooperation und vertrauensvollen Beziehungen. Und auch moralische Akteure handeln nicht nach dem kategorischen Imperativ, sondern lassen sich leiten von Emotionen und moralischen Gefühlen. Weder die neoklassische Wirtschaftstheorie noch Kants Ethik beschreiben also die Wirklichkeit menschlichen Handelns.
Doch sie taugen womöglich nicht mal als normative Modelle. Das ökonomische Nutzenkalkül führt nicht immer zu effizienten Ergebnissen, der kategorische Imperativ nicht zwangsläufig zu moralisch richtigem Handeln. Das beste Beispiel ist Kants rigoroses Lügenverbot: Nach Kant dürfen wir bekanntlich unter keinen Umständen lügen – und zwar nicht einmal, um das Leben eines anderen zu retten. Das ist nicht etwa eine bizarre Ausnahme, sondern die logische Konsequenz eines Rationalitätsmodells, das die Beweggründe menschlichen Handelns ebenso ignoriert wie dessen Konsequenzen. Der „Homo oeconomicus“ handelt vielleicht aus fragwürdigen Beweggründen, aus Profitsucht und Gier. Der „Homo kantiensis“ hingegen hat überhaupt keine Motive. Er hat nicht einmal einen eigenen Standpunkt, eine Erste-Person-Perspektive. Alles, was er hat, ist das moralische Gesetz.
Vertrauen als Schmiermittel
Die moderne Wirtschaftswissenschaft entwickelte aus ihren Rationalitätsannahmen die Allgemeine Gleichgewichtstheorie und mathematische Finanzmarktmodelle, die Philosophie in der Tradition Kants immer ausgefeiltere Theorien der Gerechtigkeit. Was beide eint, ist der Hang zur realitätsfernen Abstraktion. Die Rationalitätsaxiome der Gleichgewichtstheorie haben mit der Wirklichkeit letztlich genauso wenig zu tun wie John Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“ oder Jürgen Habermas’ „ideale Sprechsituation“.
Zu Recht kann man der Mainstream-Ökonomie vorwerfen, dass sie die systemischen Risiken der Finanzmärkte nicht erkannt hat. Zugleich aber kann man fragen, was eigentlich die Philosophen zum Verständnis der Krise beizutragen haben.
Ein Beispiel: Die Schulden- und Finanzkrise ist wesentlich eine Vertrauenskrise. Aber die Ökonomen können im Rahmen ihrer Rationalitätsannahmen nicht erklären, wie Vertrauen zwischen Marktteilnehmern entsteht – sie setzen es einfach voraus, als eine Art „Schmiermittel“ ökonomischer Transaktionen. Und genauso wenig spielt der Vertrauensbegriff in der traditionellen praktischen Philosophie eine Rolle.
Der „Homo kantiensis“ vertraut scheinbar nur der Vernunft. Wir brauchen aber eine plausible Theorie, die etwa erklärt, woran sich die Käufer von Staatsanleihen wirklich orientieren: Halten sie sich an eine Bewertung der Fakten – oder tun sie einfach nur das, von dem sie erwarten, dass es auch die anderen tun werden? Inwieweit agieren sie also rational? Und was hätte rationales Handeln in einem solchen Fall überhaupt zu bedeuten?
Das sind Fragen für Ökonomen, für Psychologen – und natürlich nicht zuletzt für Philosophen. Die Krise des „Homo oeconomicus“ ist nicht bloß eine Krise des Profitdenkens. Sie ist auch die Krise des Bilds vom rationalen Akteur, ja vielleicht eine Krise der modernen Rationalität überhaupt, die an der Komplexität jener Systeme zu scheitern droht, die sie selbst hervorgebracht hat.
“Nicht bloß die Ökonomen haben Anlass, ihren Rationalitätsbegriff zu überdenken,”:http://www.theeuropean.de/barry-schwartz/8393-psychologie-der-entscheidungen sondern auch die Philosophen.