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> Abend- und Morgenland – untrennbare Welten

Die Denkschmiede Orient

Das Halbwissen über den Islam und islamische Philosophie, mit dem so mancher Autor zu glänzen meint, beweist, in welchem Maße der Okzident die Errungenschaften des Orients zu ignorieren versucht.

The European

"Heiko Heinischs Replik":http://www.theeuropean.de/heiko-heinisch/9989-was-der-islam-europa-gebracht-hat-und-was-nicht ist bemüht, das Solidaritätsgefühl innerhalb der nichtmuslimischen Bevölkerung Europas zu stärken, indem die Minderwertigkeit des Islam (und damit auch der Muslime) mit der These festgeschrieben wird, der Islam und die bereits seit mehr als 1000 Jahren andauernde Anwesenheit der Muslime in Europa habe überhaupt keine Rolle auf dessen Entwicklung gehabt. Die Proklamierung einer historischen Sonderrolle Europas ist nicht neu. Sie ist tief in der europäischen Psychologie verwurzelt. Bereits die Griechen unterschieden zwischen der Zivilisation (sie selber) und der Barbarei. Zunächst war Barbarei ein Abgrenzungsbegriff und bezeichnete anderssprachige Völker und Kulturen. Er entwickelte sich jedoch im pejorativen Sinne weiter zu einem Weltempfinden und dann zu einer politischen Weltordnung. Barbarei war nun synonym mit dem Wort unzivilisiert. Der attische Redner Isokrates zog hieraus die moralische Legitimation, dass es das natürliche Recht der Griechen sei, Asien zu beherrschen und zu besiedeln. Ein Vorhaben, das schließlich durch Alexander den Großen durchgeführt wurde. Griechische Hybris, schließlich verdrängten die Griechen ihren eigenen Mythos, demzufolge Agenor, der Vater Europas, aus Palästina stammte.

„Wir dürfen nicht zögern, die Wahrheit anzuerkennen“
Auch Heinisch kann sich diesen Höherwertigkeits-Minderwertigkeits-Vorstellungen nicht entziehen. Er strauchelt jedoch an der Frage, wie er die aufgezählten Einflüsse der muslimischen Welt auf Europa abtun soll. Der Autor verwendet hierbei drei Strategien: a) Er unterschlägt den Einfluss muslimischer Religionsgelehrter und Philosophen, sowie muslimischer Institutionen auf das Abendland, die in meinem ursprünglichen Artikel erwähnt wurden, b) ahistorisch beschränkt er den Einfluss der Muslime auf Europa mit dem überholten Argument, diese seien lediglich für den Transfer griechischer Schriften verantwortlich gewesen und selbst dieser Vermittlungsweg sei nicht nur einer von dreien gewesen, sondern zudem noch der unbedeutendste, und c) greift er das Argument auf, das Aufblühen der muslimischen Welt sei nicht dem Islam geschuldet, sondern geschah trotz des Islam. Da der erste Punkt bereits zur Genüge in meinem "ursprünglichen Artikel":http://www.theeuropean.de/muhammad-sameer-murtaza/9951-europas-tausendjaehrige-verbindung-zum-islam widerlegt wurde, widme ich mich sogleich dem zweiten. Obwohl der Autor Historiker ist, strotzt er vor lauter Unkenntnis des Beschäftigungsgrades mit den griechischen Schriften in der muslimischen Welt. Den Autor trifft hierbei keine Schuld, vielmehr ist es ein Zeichen dafür, wie sehr an deutschen Universitäten in den Studiengängen Geschichte und Philosophie der Islam umgangen wird. Weit von irgendeinem Minderwertigkeitskomplex entfernt, leugneten die muslimischen Philosophen an keiner Stelle, dass sie sich bereitwillig von dem Wissen früherer Völker befruchten lassen wollten.
Weitaus mehr als ein philosophischer Eklektizismus
Der Philosoph Al-Kindi (gest. ca. 870), der zu dem Übersetzungskomitee des Kalifen Al-Ma’mun (ca. 786-833) gehörte, der in Bagdad eine Akademie genannt bait al-hikma (Haus der Weisheit) eingerichtet hatte, samt einer Übersetzungsschule, großer Bibliothek und Lehreinrichtung für Rhetorik, Logik, Metaphysik, Theologie, Algebra, Geometrie, Physik, Biologie und Medizin, pflegte zu sagen: „Wir dürfen nicht zögern, die Wahrheit anzuerkennen und sie zu akzeptieren, gleich welchen Ursprungs sie ist, gleich ob sie von den Alten [d. h. den Griechen] oder von fremden Völkern stammt (…). Mein Ziel ist es, alles niederzuschreiben, das die Alten uns hinterlassen haben bezüglich eines bestimmten Themas, dann mit dem Gebrauch der arabischen Sprache und unter Berücksichtigung der Gewohnheiten unserer Zeit und unserer Kapazitäten, es zu vervollkommnen, was sie nicht gänzlich ausdrückten.“ Bereits der letzte Satz unterstreicht, dass es eine Vereinfachung wäre, zu behaupten, wir hätten es aufseiten der Muslime mit einer stupiden Übernahme der griechischen Datenbasis zu tun gehabt. Von Anfang an sichteten muslimische Philosophen kritisch das griechische Material und wählten gezielt aus, welche Teile sie übernahmen, welche sie kritisierten und welche sie weiterentwickelten. Damit war die islamische Philosophie von Beginn an weitaus origineller als ein bloßer Eklektizismus. Daran anschließend begann eine Phase, in der das Verständnis der griechisch-neuplatonischen Philosophie im Zentrum stand, die das zehnte und elfte Jahrhundert prägte. Ihr folgte die Phase, in der die Kritik und die Assimilation der griechischen Philosophie in die muslimische Gedankenwelt das Hauptanliegen der Philosophen darstellte. Im Rahmen ihrer Aristotelesrevision schufen sie ein eigenes philosophisches Denken, waren also über die Stufe der hauptsächlichen Rezeption hinausgegangen. Daraufhin begannen die Muslime auf der Grundlage der assimilierten und nun islamisierten ehemals griechischen Philosophie durch Diskussionen mit der Weiterbildung des eigenen philosophischen Wissenstandes. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass der Aristoteles, den man in Europa im Mittelalter zu lesen bekam, nicht der griechische war, sondern die östliche korrigierte Version von ihm.
Der experimentelle Geist ist ein muslimischer
Hätte der Autor sich zumindest die Mühe gemacht, Al-Kindis Schrift über die Erste Philosophie zu lesen, so hätte er feststellen können, wie kritisch bereits dieser Philosoph Aristoteles’ Annahme über die Ewigkeit der Welt dekonstruierte. Eine weitere Wissenslücke besteht bei Heinisch hinsichtlich der These, dass der experimentelle Geist nicht den Muslimen zu verdanken sei. Wäre dem so, so würden wir heute möglicherweise nichts über die Psychosomatik wissen. Der Mediziner und Philosoph Al-Razi (gest. ca. 925/932) stellte seinerzeit die größten Autoritäten antiker und mittelalterlicher Medizin infrage, indem er als Erster ihre theoretischen Aussagen anhand von klinischen Fallstudien einer Überprüfung unterzog. So kritisierte er den griechisch-römischen Arzt Galen (129-199) für die Annahme, die Verfassung der Psyche sei von der Gesundheit des Körpers abhängig. Al-Razi gelangte anhand seiner Beobachtungen zu dem Schluss, dass ganz im Gegenteil die Psyche den Körper erkranken lassen kann, ohne dass ein organisches Leiden vorhanden ist. Damit ebnete er der Psychosomatik den Weg. Sein Buch über die Infektionskrankheiten, Pocken und Masern galt noch im 18. Jahrhundert als autoritativ und wurde in England im Streit um die Pockenschutzimpfung herangezogen. Seine überragende Bedeutung sowohl für die Medizin im Orient wie Okzident erklärt auch die latinisierte Fassung seines Namens mit Rhazes. Es ist ein sehr wackeliges Kartenhaus, das der Autor der Replik da aufgebaut hat. Er weiß darum wohl selber und behauptet, dass der zivilisatorische Fortschritt der muslimischen Welt nie etwas mit dem Islam zu tun gehabt hatte. Wieder einmal offenbart sich hier eine tiefe Unkenntnis über die Geschichte der muslimisch geprägten Welt. Bereits der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche hatte den Unterschied zwischen der historischen Einordnung des Christentums und des Islam herausgestrichen.
Der Prophet schaffte eine neue Realität
Während das Christentum sich in die antike Welt integrierte und nicht die Stärke aufbrachte, die vom Menschen bisher gesetzten Perspektiven auf die Welt zu überwinden, war Muhammad, so Nietzsche, der Zerstörer aller bisherigen Perspektiven. Der Prophet aus Mekka veränderte die bisherige Sicht auf die Welt. Er schaffte eine gänzlich neue Realität und änderte damit den weiteren Fortgang der menschlichen Geschichte, indem er das Alte ablöste, tabula rasa, und auf die leeren Tafeln das Neue, den Islam schrieb. Hierdurch löste er eine Zeitenwende aus, die die Antike überwand. Die Wissenschaftler Arnold J. Toynbee, Philip Khuri Hitti, Marshall G. S. Hodgson und Bernard Lewis argumentierten allesamt auf die gleiche Weise, es war der Islam allein, der Auslöser für das Aufblühen einer islamischen Zivilisation war. Lewis erklärt in „Die Araber“: „Die Notwendigkeit, den Koran auszulegen und zu erklären, führte zur Entstehung der Grammatik und Lexikografie. In Medina betrieben die Strenggläubigen der alten Schule religiöse Studien im engeren Sinn: die Interpretation des Koran, die Ausformulierung der Lehre und die Kodifizierung der Überlieferungen, aus deren juristischem und biografischem Material sich später die verschiedenen islamischen Schulen der Rechtsprechung und Geschichtsschreibung entwickeln sollten.
Unter frühen Muslimen herrschte Neugier und Wissbegierde
Aus der Koraninterpretation ging das umfangreiche juristische Korpus der Scharia hervor. Ausgangspunkt der arabischen Geschichtsschreibung war das Leben des Propheten; sie erfuhr eine wesentliche Bereicherung durch die Kodifizierung der mündlich weitergegebenen, vorislamischen historischen Überlieferungen der Araber und später vor allem durch das Vorbild der persischen Chronisten am Sassanidenhof, das den Arabern über Vermittlung persischer Konvertiten bekannt wurde. (…) Die Muslime brachten schon früh umfangreiche Geschichtswerke verschiedenster Art hervor: Universalgeschichten, Regionalgeschichten, Geschichten bestimmter Familien, Stämme oder Institutionen.“ Ausgelöst durch die Vernunftappelle im Qur’an herrschte unter den frühen Muslimen eine Mentalität der Neugierde, der Wissbegierde und der Bereitschaft, von anderen Kulturen zu lernen. Lewis schreibt: „Auf dem Gebiet der Medizin hielten die Araber an den grundlegenden Theorien der Griechen fest, bereicherten sie aber durch praktische Beobachtungen und klinische Erfahrungen.
Algebra ist eine arabische Errungenschaft
Auf dem Gebieten der Mathematik, Physik und Chemie erbrachten sie weit größere und eigenständigere Leistungen. Die sogenannten ,arabischen‘ Zahlen, ein Positionssystem, das auch die Null mit einschließt, waren ursprünglich von den Indern übernommen worden. Sie wurden jedoch erst im muslimischen Nahen Osten in die mathematische Theorie integriert und gelangten später nach Europa. Algebra, Geometrie und insbesondere Trigonometrie waren im Wesentlichen rein arabische Errungenschaften. (…) Von den älteren Zivilisationen übernahmen die Araber auch den Begriff des Buches als eines materiellen Ganzen, als einer Sammlung gebundener Seiten mit einem Titel, einem bestimmten Thema, mit einem Anfang und einem Ende sowie später auch mit Illustrationen und ornamentverzierten Einbänden. Ursprünglich gelangte ein arabisches literarisches Werk nur durch seine mündliche Weitergabe und Rezitation an die Öffentlichkeit, und lange Zeit über galt das gesprochene Wort als die einzig anerkannte Publikationsform. Mit der wachsenden Zahl und dem steigendem Umfang der literarischen Werke wurde es jedoch bald notwendig, sie auch schriftlich festzuhalten, und die Schriftsteller begannen, Entwürfe zu skizzieren, Vorlesungen zu halten, zu diktieren, Sekretäre zu beschäftigen und schließlich auch Bücher zu verfassen.“ Heinisch versucht verzweifelt vom muslimischen Beitrag für Europa abzulenken, indem er einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet und die muslimischen Eroberungen thematisiert. Im gleichen Atemzug verschweigt er jedoch geschickt die Rolle der aggressiven blutigen Kreuzzüge, er lobt die Reconquista, verheimlicht jedoch die Verfolgung und Zwangsbekehrung von Juden und Muslimen, wie auch die herzliche Aufnahme der aus Europa geflohenen Juden in der muslimischen Welt, ebenso unterschlägt er die ausbeuterische Rolle des Kolonialismus.
Ohne den Koran ist die islamische Philosophie undenkbar
Ohne den islamischen Imperialismus – und so muss man ihn benennen – zu verklären, so übertraf er doch kulturhistorisch den Hellenismus bei Weitem. Er leitete einen Aufschwung in Wissenschaft und Technik ein, von dem das Europa der Neuzeit noch heute profitiert. Rückblickend vereinten die islamischen Eroberungen zum ersten Mal in der Geschichte ausgedehnte Territorien, von Indien und China bis hin zu Italien, Frankreich und dem Balkan, unter einer Herrschaft. Die Muslime, so erklärt Lewis, verschmolzen primär durch ihre Sprache und ihren Glauben zwei bis dahin gegensätzliche Kulturen zu einer einheitlichen Gesellschaft: einerseits die jahrtausendalte mediterrane Tradition Griechenlands, Roms, Israels und der alten nahöstlichen Kulturen und andererseits die blühende Zivilisation des Iran mit ihren Kontakten zu den Hochkulturen des Ostens. Aus dem Zusammenleben all dieser Völker, Religionen und Kulturen innerhalb der Grenzen der islamischen Gesellschaft entstand eine neue Zivilisation, die in ihrer Existenz trotz aller vielfältigen Ursprünge und wechselnden Manifestationen auf unverwechselbare Weise vom Islam geprägt war. Der Versuch, die islamische Philosophie von ihrem Prädikat islamisch zu trennen, verdeutlicht abermals, dass Heinisch noch nie etwas von Al-Farabi oder Ibn Sina gelesen hat. Die islamische Philosophie steht unter dem Einfluss und dem geistigen Klima, das die islamische Religion erzeugt hat. Eine reine Isolierung des Denkens muslimischer Philosophen von ihren religiösen Grunderfahrungen und Werten ist nur theoretisch, aber nicht praktisch möglich. Bei allem Integrieren neuer Gedanken, vergaßen die muslimischen Denker niemals ihre Rückbindung zum allerersten Impuls ihres Philosophierens, nämlich der islamischen Offenbarungsschrift, wovon ihre Schriften reichlich Zeugnis abgeben.
Das Abendland ignoriert islamische Errungenschaften
Heinischs Replik ist Ausdruck der Schwierigkeit des Abendlandes, mit der Tatsache umzugehen, dass es durch die islamische Philosophie – als ein Element unter vielen – mit befruchtet wurde. Wenn es schon so etwas wie Philosophie in der islamischen Welt gegeben haben soll, dann könne dies keinesfalls eine Eigenleistung darstellen, sondern verdanke sich einer bereits vorgegeben griechischen und damit europäischen Philosophie, in dessen Rahmen sich die Muslime bewegten. Es kann eben nicht sein, dass die Philosophie als Vernunftwissenschaft im Islam zu verorten ist. Es ist diese Sichtweise, die dazu führte, dass islamische Philosophen und ihr Wirken weitestgehend im europäischen Bildungswissen verdrängt wurden. Doch mit dem Aufkommen einer muslimischen Bildungselite ändert sich dies nun. Ein großer Beitrag der europäischen Muslime wird es sein, dass wir die Geschichte Europas und die Einflüsse, die das heutige Europa mitgeprägt haben, besser verstehen werden. In vielleicht 100 oder 150 Jahren wird es Museen und Ausstellungen geben, die den Einfluss des Islam auf Europa behandeln werden. Bis es so weit ist, empfehle ich Herrn Heinisch Watts Buch „Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter“.
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