Chile und die Angst vor einem neuen Venezuela
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Chile galt als kapitalistisches Musterland in Südamerika. Doch 2021 entschieden sich die Wähler für den sozialistischen Kandidaten Gabriel Boric. Und im September stimmen sie über eine neue Verfassung ab. Kippt das Land? Ein Interview mit Professor Axel Kaiser, Buchautor, Politologe, Jurist und ein führender Kopf des Think Tanks Fundación Para El Progreso

Chile galt als kapitalistisches Musterland in Südamerika. Im Human Development Index 2022 nimmt es den Spitzenplatz aller lateinamerikanischen Staaten ein. Und im Index of Economic Freedom 2022 der Heritage Foundation kommt es auf Platz 20, noch vor den USA oder Großbritannien. 2018 betrug die Rate der Menschen, die in Armut leben, im kapitalistischen Chile 6,4 Prozent, während sie im sozialistischen Venezuela im gleichen Jahr 76,6 Prozent betrug.
Trotz dieser Erfolgsgeschichte des Kapitalismus in Chile – ich habe ausführlicher darüber in meinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ geschrieben -, haben die Chilenen sich bei den Wahlen im vergangenen Jahr für den sozialistischen Kandidaten Gabriel Boric entschieden und stimmen am 4. September über eine neue Verfassung ab. Wie konnte es dazu kommen? Ich sprach in Santiago de Chile mit Axel Kaiser, dem Inhaber des Friedrich Hayek Lehrstuhls an der Adolfo Ibáñez University, eine der führenden Universitäten Chiles. Zudem ist der Gründer des libertären Think tanks Foundation for Progress in Chile.
Frage: Am 4. September stimmen die Chilenen über eine neue Verfassung ab. Sie warnen vor den Gefahren – was sind Ihre wesentlichen Kritikpunkte?
Axel Kaiser: Die ganze neue Verfassung ist von einem tiefen Misstrauen gegen den Markt und einem fast grenzenlosen Staatsvertrauen geprägt. Mit 499 Artikeln ist sie die längste Verfassung der Welt, aber statt sich ein Beispiel an guten Verfassungen wie etwa dem deutschen Grundgesetz zu nehmen, hat man viel abgeschaut von Verfassungen wie denen von Venezuela oder Bolivien. Ein großes Problem ist, dass die Eigentumsrechte aufgeweicht werden. Bisher war der Staat verpflichtet, wenn er Unternehmen enteignet, ihnen den vollen Marktpreis in Cash zu bezahlen. Nach dem Entwurf der neuen Verfassung muss der Staat nur einen nicht näher definierten „fairen Preis“ bezahlen und auch nicht in Cash. Zudem werden alle möglichen „sozialen Rechte“ wie etwa das Recht auf Arbeit garantiert – das kennt man eher aus der Verfassung der DDR, wo es in Artikel 24 hieß „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit.“
In der Verfassung werden auch die Rechte der indigenen Völker in Chile stark betont. Das klingt erstmal gut. Sie kritisieren das.
Ja, weil damit die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung in Chile aufhören würde. Es gäbe dann sozusagen autonome Zonen, wo das Recht Chiles nur eingeschränkt angewendet würde. Schon heute kann sich der Staat Chiles dort nur mit Notstandsbestimmungen durchsetzen, weil in vielen dieser Gebiete im Süden Anarchie und Gewalt herrschen. Sogar unser neuer Präsident Gabriel Boric, der vor den Wahlen dieses Notstandsrecht scharf kritisiert hatte, hat es jetzt selbst anwenden müssen, weil die Gewalt immer mehr eskaliert. Die Gewalttäter sind linksextreme Gruppen, die jedoch eng mit der organisierten Kriminalität, besonders dem Drogenhandel, verbunden sind.
Dass Boric nach der Wahl anders handelt als vor der Wahl, ist ja nichts Ungewöhnliches für Politiker und in diesem Fall auch zu begrüßen. Werden sich die Hoffnungen derjenigen erfüllen, die glauben, dass er eine vergleichsweise moderate Politik betreiben wird?
Im Vergleich zu den Kommunisten, die trotz ihres bescheidenen Stimmenanteils immer einflussreicher werden, ist Boric natürlich moderat. Auf der anderen Seite ist er zweifelsohne ein überzeugter Sozialist. Vor seiner Rede zum Amtsantritt am 11. März diesen Jahres ist er demonstrativ zu der großen Statue von Allende gegangen und hat sie geküsst. Für die Sozialisten sicher ein wichtiges Symbol, aber bei vielen anderen nährt das die Befürchtung, dass er doch einen radikalen Weg gehen wird.
Werden Boric und seine Anhänger das Referendum über die Verfassung am 4. September gewinnen?
Die Zustimmung zu Boric sinkt. Als die Chilenen im letzten Jahr darüber abgestimmt haben, ob es eine neue Verfassung geben soll, waren 78 Prozent dafür. Also eine ganz überwältigende Mehrheit. Inzwischen gibt es mehrere Umfragen, die zeigen, dass die Mehrheit der Chilenen gegen die neue Verfassung ist. Doch bis zum 4. September kann noch viel passieren, der Ausgang der Abstimmung ist offen.
Man hat den Eindruck, Boric und seine Regierung halten sich bis zur Abstimmung zurück, aber danach könnten sie radikale Maßnahmen ergreifen.
Boric hat schon bei den Wahlen zwei Gesichter gezeigt. Im ersten Wahlgang hat er radikale Parolen verbreitet, im zweiten Wahlgang gab er sich moderat. Damit konnte er viele Mitte-Wähler gewinnen.
Ja, meine Freundin, die aus Chile kommt, ist bestimmt nicht links, hat aber auch für Boric gestimmt, weil sie den Gegenkandidaten, José Antonio Kast, als extrem rechts wahrgenommen hat. Was halten sie von ihm?
Kast ist ein Nationalkonservativer und steht somit rechts von mir, weil ich ein Libertärer bin. Aber andererseits haben es die linken Medien übertrieben, die ihn als lupenreinen Nazi dargestellt haben. Da wurde auch mit unfairen Argumenten gearbeitet, zum Beispiel mit Hinweis darauf, dass sein Vater NSDAP-Mitglied war. Aber zweifelsohne haben viele Chilenen so gestimmt, wie Ihre Freundin – sie waren eigentlich nicht für Boric, aber gegen Kast.
Auch Hugo Chavéz hatte in Venezuela vor der Wahl erklärt, er wolle auf gar keinen Fall Unternehmen verstaatlichen, und bezeichnete sich als „Tony Blair der Karibik“, also als marktwirtschaftlich orientierter Sozialdemokrat. Tatsächlich hat sich dann seine Politik zunehmend radikalisiert, bis sie in Diktatur und Chaos endete. Wird aus Chile ein zweites Venezuela?
Ich glaube noch an die Vernunft der Chilenen, dass es nicht so weit kommen wird. Aber so oder so stehen uns schwierige und bittere Jahre bevor. Sorgen bereitet mir vor allem die zunehmende Gewalt im Land. Und eine Rückkehr zu der insgesamt erfolgreichen marktwirtschaftlichen Politik, die übrigens in den letzten Jahrzehnten – wenn auch mit Abstrichen – auch von Sozialisten mitgetragen wurde, halte ich für unwahrscheinlich. Warum erleichtern die Sozialisten mit der neuen Verfassung Verstaatlichungen, wenn sie nicht entsprechende Pläne in der Schublade haben? Auch die geplante Einführung der Vermögensteuer wird Investoren logischerweise eher abschrecken.