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„Wir Muslime stehen in der deutschen Gesellschaft ganz unten“

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Der barbarische Anschlag der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober hat seismische Wellen ausgelöst, die global zu spüren sind - insbesondere in Deutschland aufgrund unserer geschichtlichen Verantwortung für den Schutz der Menschenwürde und des Judentums. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft definiert ihr Verhältnis zur deutsch-jüdischen, aber auch deutsch-muslimischen Gemeinschaft neu. Was gerade geschieht, wird unser gesellschaftliches Zusammenleben für die nächsten Jahrzehnte prägen.Von Muhammad Sameer Murtaza

Durch das unbesonnene Mitläufertum junger Muslime, die den ideologischen und antisemitischen Rattenfänger der Hizb ut-Tahrir auf den Demonstrationen hinterherlaufenverlieren wir Muslime gerade wichtige jüdische Partner in der Friedensarbeit, meint Muhammad Sameer Murtaza.
Durch das unbesonnene Mitläufertum junger Muslime, die den ideologischen und antisemitischen Rattenfänger der Hizb ut-Tahrir auf den Demonstrationen hinterherlaufenverlieren wir Muslime gerade wichtige jüdische Partner in der Friedensarbeit, meint Muhammad Sameer Murtaza.

„Distanziert euch von der Hamas!“, so lautet der zunehmend lauter werdende Tenor in dieser Gesellschaft, der sich an arabischstämmige Mitbürger und Mitbürger muslimischen Glaubens richtet. Es gibt einen Unterschied zwischen der Verurteilung des Hamas-Terrors, was viele deutsche Muslime getan haben, und einer Distanzierung. Erst einmal, wer soll sich eigentlich distanzieren? Im deutschen Diskurs werden alle Araber in einen Topf geworfen, als wären sie eine homogene Gruppe. Algerien und Marokko sind arabische Nachbarländer und dennoch sind es gänzlich verschiedene Kulturen, was sich schon an der Küche zeigt. Was hat ein Marokkaner nun mit der Hamas zu tun? Warum soll sich ein libanesischer Christ von der Terrorbande distanzieren? 

Und weshalb sollen sich Muslime von der Hamas distanzieren? Was haben wir mit diesen Meuchelmördern zu tun? Niemand käme auf die Idee, von deutschen Juden eine Distanzierung von der Siedlerbewegung zu fordern, die gerade den Nahost-Konflikt für sich ausnutzt, um Palästinenser in der Westbank mittels Gewalt zu vertreiben und sich deren Land widerrechtlich anzueignen. Was haben denn deutsche Juden damit zu tun? Oder sollen sich jene von der Hamas distanzieren, die auf deutschen Straßen für diese Feiglinge skandieren? Wozu, die haben sich doch bereits für diese menschenverachtende Gruppe entschieden. Ihnen muss das Leben hierzulande schwer gemacht werden.

Machen wir uns doch mal an dieser Stelle ehrlich. Wir haben aus 9/11 und den Folgen als Gesellschaft nichts gelernt. Dieselben Reflexe von damals treten nun wieder in Erscheinung. Hinter dem Aufruf zur Distanzierung versteckt sich die Unterstellung, dass Araber und Muslime ja doch irgendetwas mit der Hamas und Judenfeindlichkeit zu tun haben müssen. Die Mehrheitsgesellschaft misstraut ihnen und erwartet Loyalitätsbekundungen. Solange diese aber nicht erfolgen, gelten arabische und muslimische Mitbürger pauschal als verdächtig. 

Und damit verliert diese Gesellschaft all jene arabischstämmigen und muslimischen Mitbürger, die die Hamas für ihr ganzes Wesen verachten. Wie zu 9/11 sind wir wieder als Fremde markiert. Und wir spüren dies. Politik und Medien sprechen uns nicht als Mitbürger an, sondern heben den Minderheitenfaktor hervor, der uns zum anderen degradiert. Wer sind wir in diesem Land? Irgendwer im Nirgendwo. Und wir Muslime stellen fest, es trifft uns alle: Egal wie sehr du dich assimiliert, integriert, liberal oder emanzipiert wähnst, mit einem Male bist du nur noch der Fremde. Warst du jemals etwas anderes? Wirst du jemals etwas anderes in diesem Land sein? 

Wir sind immer nur die Fremden

In diesem Moment erkennen wir Muslime, welche Bedeutung und welchen Platz wir im Diskurs haben. Wir sind diejenigen, die diese Gesellschaft tragen und zusammenhalten. Jede Gesellschaft besitzt eine Dominanzhierarchie. In der hiesigen sind wir Muslime ganz unten. Es gab 2017 mindestens 950 Angriffe und Anschläge in Deutschland auf Moscheen und Muslime. 2022 waren es immer noch 569 Fälle von Muslimfeindlichkeit. Das ist keine kleine Zahl. Aber wurde darüber exzessiv in den Medien berichtet? Erhob sich die Zivilgesellschaft und trug in Solidarität Kopftuch, wenn Mitbürgerinnen muslimischen Glaubens von autochthonen Deutschen überfallen und zusammengeschlagen wurden? Distanzierte sich die Mehrheitsgesellschaft von dieser Muslimfeindlichkeit? Wurde ein Beauftragter der Bundesregierung für antimuslimischen Rassismus eingestellt, der die Sensibilität für die vulnerabelste Minderheit in unserem Land weckt, die über keine Fürsprecher verfügt? Nein, denn wer dauerhaft in der Gesellschaftspyramide unten verbleibt, erntet Gleichgültigkeit. Mitgefühl und Mitleid sind stets zeitlich begrenzt. Das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern ist psychologisch ein global zu beobachtendes Phänomen. 

Warum sind wir Muslime der Bodensatz dieser Gesellschaft? Das hat viel mit unserem ökonomischen Status in diesem Land zu tun. Das hat auch damit zu tun, dass manche von uns Inseln des Versagens etabliert haben, die die sozialen Strukturen ihrer alten Heimat kopiert haben. Das hat auch viel damit zu tun, dass wir Muslime es bis heute nicht geschafft haben, die Diskurssprache dieser Gesellschaft uns zu eigen zu machen. In diesen Tagen sieht man dies auf den Demonstrationen sehr gut. Da wird laut „Allahu akbar“ geschrien und sich dadurch disqualifiziert. Würden wir Muslime uns die Mühe machen, wirklich sprechfähig werden zu wollen, dann würden wir uns Gedanken machen, wie wir mit der Mehrheitsgesellschaft in ein konstruktives Gespräch kommen. „Allahu akbar“ weckt Ängste und erinnert an die Taliban, Al-Qaida und den IS. Würden Muslime, so wie der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, es vorgeschlagen hatte, an Friedensgebeten teilnehmen, hätte dies eine ganz andere Wirkung auf die Gesellschaft.

Die muslimische Minderheit ist eine willkommene Abgrenzungsfläche

Aber auch die Mehrheitsgesellschaft benötigt uns Muslime ganz unten. Was hält denn dieses Land, das politisch immer fragmentierter und vielstimmiger wird, zusammen? Insbesondere jetzt, da wir uns in einem ökonomischen Niedergang befinden und die soziale Mobilität abnimmt? Auf der Staatsebene wird zwar der 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit zelebriert, aber doch nicht von den Otto-Normal-Bürgern. Inmitten dieser Relevanz- und Identitätskrise wird die muslimische Minderheit zur willkommenen Projektions- und Abgrenzungsfläche, wovon die vergangenen Jahrzehnte an Politik-Talkshows sehr gut belegen. Wieder und wieder geht es um Kopftücher, muslimische Machos und Paschas, Grundgesetz und Scharia sowie Gefahr.

Das geht auch deshalb, da Muslime in den Medien und in der Politik keine wirklich hörbare Stimme haben. Die Diskursmacht liegt bei der Mehrheitsgesellschaft und sie entscheidet, wer in die unzähligen Talkshows eingeladen wird und wer in den Printmedien etwas veröffentlichen darf. Gehör wird gerne jenen geschenkt, die ohnehin die bestehenden Vorurteile bestätigen und damit noch zementieren. Wenn sie dann noch selbst einen muslimischen Hintergrund haben, umso besser, denn dann sind sie ja scheinbar authentische Kronzeugen. Die Gesellschaft sitzt zu Gericht, aber was ist ein solcher Prozess wert, wenn die Verteidigung ihre Zeugen nicht aufrufen darf?

In diesen Tagen mehren sich die Stimmen, die von uns Muslimen fordern, endlich gegen Antisemitismus – auch in den eigenen Reihen – aktiv zu werden. Dabei gibt seit Jahren Initiativen: zahlreiche Artikel, Bücher und Vorträge, die den islamisch verbrämten Antisemitismus dekonstruieren, mit Maimonides ein jüdisch-muslimisches Bildungswerk, bis hin zu Ausschwitzbesuchen, die der Zentralrat der Muslime organisiert. Die Frage an die Mehrheitsgesellschaft lautet daher: „Warum seht ihr das alles nicht? 

Während Muslime gesellschaftstragend sind, sind Juden staatstragend. Seit vielen Jahren gibt es ein immer stärker artikuliertes Bedürfnis hierzulande, sich nicht mehr über die Shoa und den zivilisatorischen Bruch zu definieren. Einfach ausgedrückt: Der Deutsche möchte wieder guten Gewissens die deutsche Fahne schwenken und dies nicht nur, wenn die deutsche Fußballmannschaft auf das Spielfeld läuft. Die AfD hat diese Stimmung sehr gut aufgegriffen und arbeitet rhetorisch seit langem daran, den Holocaust zu relativieren. Die Antwort der politischen Mitte lautete zunächst: Verfassungspatriotismus. Doch dieser stellte sich als zu zerebral heraus, unfähig, Emotionen auszulösen, nach denen sich einige sehnen. Krampfhaft suchte vor allem die CDU/CSU nach Alternativen, um nicht unter die Räder der AfD zu kommen. Dieses Jahr lautete die Antwort: Bundesprogramm Patriotismus, ein weiterer Rohrkrepierer. Gefühle kann man eben nicht durch Programme herbeizaubern oder verordnen.

Die deutsche Staatsräson ist gerade dabei, dieses herbeigesehnte Nationalbewusstsein zu schaffen. Sie verwandelt das einstige Versagen des deutschen Volkes in eine positive Kraft und Mission, nämlich den Schutz des israelischen Staates. Als deutscher Staatsbürger erachte ich die Staatsräson historisch als richtig und als Muslim sehe ich mich dem Schutz jüdischen Lebens, egal wo, verpflichtet. Aber was bedeutet die Staatsräson nun eigentlich ausbuchstabiert? Sie sollte in ihrer inhaltlichen Bedeutung nicht darauf reduziert werden, ausschließlich und bedingungslos solidarisch mit Israel zu sein. Das wäre zu wenig. Dies würde zuviel ausklammern. Das wäre eine allzu bequeme Distanz zu der blutigen Realität im Nahost-Konflikt. Die Wahrheit ist, so kürzlich der ehemalige US-Präsident Obama, dass in diesem Konflikt niemand „saubere Hände“ hat. Wer das Unrecht, das den Palästinensern angetan wurde, trivialisiert und ausblendet, mag sich zwar seine moralische Unschuld bewahren, aber scheitert daran, irgendetwas zum Frieden beizutragen. Bundeswirtschaftsminister Habeck hat in seiner Rede zu Israel und Antisemitismus das Übel der Siedlerbewegung angesprochen, doch was bedeutet dies nun für die Staatsräson? Unbedingte Loyalität, selbst wenn die Siedler weiter ein Dorf nach dem anderen errichten? Oder müsste man diese Siedler nicht international sanktionieren? Oder bedeutet die Staatsräson über neues Unrecht hinwegzusehen und die weitere Vertreibung der Palästinenser stillschweigend hinzunehmen? Wäre dies dann nicht wieder einmal ein Fall von doppelten Standards? Ist es denn wirklich so schwer, das Leid der Palästinenser und der Israelis vorbehaltlos anzuerkennen und ihr Leid ohne Relativierung auf historische Umstände wahrzunehmen?

Ist es so schwer, das Leid der Palästinenser und Israelis anzuerkennen?

Scheinbar nicht. Im Tagesspiegel argumentiert Konstantin Sakkas, dass sich das jüdische Volk lediglich das Land zurückholt, das ihm einst gehörte. Das ist nicht mehr weit entfernt von den Siedlerpositionen, die die Vertreibung der Palästinenser und die Annektion der Westbank damit begründet, dass Gott den Juden dieses Land zugesagt habe. Nun lebten vor den Israeliten in Palästina die Kanaaniter, deren Nachfahren man im heutigen Libanon findet. Wenn diese nun einen Anspruch auf das Land ihrer Vorfahren erheben würden, würde Sakkas diesen dann als ebenso gerechtfertigt ansehen? Und wie lange muss eigentlich ein Volk in einem Landstrich gelebt haben, damit es Anrecht auf diesen hat? Die Araber leben seit mindestens 1300 Jahren in Palästina.

Weitere merkwürdige Auswüchse dieses neuen Nationalbewusstseins zeigen sich, wenn in Printmedien und Politik-Talkshows Hubert „Antisemitismus-Flugblätter“ Aiwanger den Antisemitismus gänzlich den muslimischen Zuwanderern zuschreiben darf. Vielleicht lädt man demnächst auch Bernd Höcke zu dem Thema ein. Kann es sein, dass Teile der deutschen Gesellschaft die Gunst der Stunde nutzen, um sich selber zu entlasten, zugleich aber kein wirkliches über die Shoa hinausgehendes Interesse am Judentum hat? Antisemiten sind also bloß die anderen: Beschneidungsdebatte 2012, Hanau, Halle, NSU, AfD im Bundestag mit aktuell 20 Prozent Zustimmungswerten in den Umfragen? 

Aber auch das jüdisch-muslimische Verhältnis geht in diesen Tagen in die Brüche. Muslimische Organisationen berichten mir, wie langjährige jüdische Kontakte auf Abstand gehen. Eine Freundin und Rabbinerin, die sich seit jeher für einen gerechten Frieden zwischen Palästinenser und Israelis einsetzt und sich nicht scheut, die in Teilen rechtsextreme, demokratiefeindliche und korrupte Netanjahu-Regierung zu kritisieren, ist zutiefst verstört von der Kälte vieler Muslime hinsichtlich des Leids, das israelischen Zivilisten widerfahren ist. Und ich kann sie verstehen. Nicht wenige Muslime sehen in den Israelis lediglich Täter und in den Palästinensern ausschließlich Opfer. Wenn Juden ihr Friedensengagement nun Hinterfragen, so ist dies nur allzu menschlich. Durch das unbesonnene Mitläufertum junger Muslime, die den ideologischen und antisemitischen Rattenfänger der Hizb ut-Tahrir auf den Demonstrationen hinterherlaufen

verlieren wir Muslime gerade wichtige jüdische Partner in der Friedensarbeit. Jahrelang stand der Zentralrat der Juden an der Seite der Muslime, wenn Moscheen angegriffen oder Muslime überfallen wurden. Zuviele von uns haben nun aber den deutschen Juden signalisiert, dass sie sich auf uns nicht verlassen können und sich keine Solidarität zu erhoffen brauchen. Es sind keine Juden, die Moscheen angreifen oder Muslime attackieren. All dies wird Auswirkungen auf die Zukunft haben.

Das jüdisch-muslimische Verhältnis geht in die Brüche

Und wie geht es nun von hier aus für uns alle weiter? Eine muslimische Freundin schreibt mir dieser Tage, dass sie einfach daran glauben möchte, dass es nicht wieder so schlimm wird wie nach 9/11. Sie will einfach daran glauben können. Ich kann diesen Glauben nicht teilen. Eine meiner frühesten Erinnerungen als 8-jähriger ist ein Anruf zur fortgeschrittenen Uhrzeit, wo am Ende der anderen Leitung ein autochthoner Deutscher drohte, wenn wir nicht das Dorf, in das wir kürzlich zugezogen waren, verlassen, man uns töten würde. Deutschland ist mir zu einem Ort Dazwischen geworden. Ja, es gibt eine gewisse Familiarität, da ich hier geboren, aufgewachsen und sozialisiert wurde. Aber dieses Land hat einen nie umarmt, nie gewärmt, nie Trost gespendet, nie angenommen. Die vergangenen 22 Jahre stand man ständig unter Verdacht und unter dem Zwang, sich von etwas zu distanzieren, mit dem man sowieso nichts zu tun hatte. 

Und so schaue ich dieser Tage mit besorgten Augen auf meine acht Monate alte Tochter, die mir alles bedeutet und frage mich, ob sie die gleichen Erfahrungen von Rassismus und Ausgrenzung machen wird, wie soviele Muslime meiner Generation es mussten. Jeder Vater wünscht sich für seine Kinder eine bessere Welt als die, in der er aufgewachsen ist. Dieses bessere Deutschland werden wir nicht schaffen können, wenn Politik, Medien und Zivilgesellschaft jene muslimischen Deutschen und Mitbürger ausschließen, die konstruktiv an einer menschenwürdigeren Gesellschaft mitarbeiten und gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit, ob säkular rechts oder links oder eben religiös vorgehen wollen.

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