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Wie sich ukrainische Männer dem Militärdienst entziehen

Die einen fliehen, die anderen schreiben sich als Studenten ein: Es gibt in der Ukraine zahlreiche Möglichkeiten, an einer Einberufung vorbeizukommen. Manche Beamte stellen gegen Geld „Ausnahmegenehmigungen“ aus. Doch Fluchthelfer werden inzwischen hart bestraft. Von The Economist

Nicht alle ukrainischen Männer sind so erpicht darauf, zu den Waffen zu greifen. Quelle: Shutterstock
Nicht alle ukrainischen Männer sind so erpicht darauf, zu den Waffen zu greifen. Quelle: Shutterstock

Im morgendlichen Dunkel des Bahnhofs von Chop, einer Grenzstadt in der Ukraine, stehen die Reisenden Schlange für den Zug nach Zahony, eine 13-minütige Fahrt nach Ungarn. Von dort aus kann man nach Budapest und dann in die Welt reisen. Außerhalb des Bahnhofs bläst ein Zug Soldaten bei einer Zeremonie zur Feier des Tages der ukrainischen Nationalflagge, der immer einen Tag vor dem Unabhängigkeitstag begangen wird, in die Trompeten. Aber nicht alle ukrainischen Männer sind so erpicht darauf, zu den Waffen zu greifen, wie es das feierliche Ritual der Soldaten erwarte ließe. Tausende sind ins Ausland geflohen, viele von genau diesem Bahnhof.

 

 

In der Warteschlange von etwa 130 Personen sind nur 20 Männer. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen, es sei denn, sie erhalten eine Ausnahmegenehmigung. Vier der Wartenden sind junge Burschen, die demnächst 18 werden. Um das Risiko einer Mobilisierung zu vermeiden, müssen sie vorher ausreisen. Natürlich finden auch einige andere Männer Wege, die Ukraine zu verlassen, legal oder illegal. Am 11. August kündigte Präsident Volodymyr Zelensky an, dass er die Leiter der regionalen militärischen Rekrutierungszentren des Landes entlassen werde, in denen Beamte angeblich Reisegenehmigungen für bis zu 10.000 Dollar verkauften. „Bestechung im Krieg ist Verrat", wetterte Zelensky.

 

 

„Bestechung im Krieg ist Verrat“

In Uzhhorod, einer Stadt an der nahe gelegenen slowakischen Grenze, bedauert der 25-jährige Oleksiy, dass er am Tag des Einmarsches der Russen nicht mit seinem Cousin geflohen ist. Krieg ist „legalisierter Mord", sagt er, „und daran will ich nicht teilhaben." Er zögerte noch ein paar Tage, aber dann war es zu spät, um legal zu gehen. Da Studenten von der Mobilisierung ausgenommen sind, hat er sich für einen zweiten Studiengang eingeschrieben. Aber er wird für sein Studium bezahlen müssen: Nur der erste Hochschulabschluss ist in der Ukraine kostenlos.

 

 

Die Zahl der wehrpflichtigen Männer, die sich als Studenten eingeschrieben haben, ist „riesig", sagt Dmytro Tuzhansky, der Direktor des Instituts für mitteleuropäische Strategie, einer Denkfabrik mit Sitz in Uzhhorod. Eine weitere Möglichkeit, der Mobilisierung zu entgehen, besteht seiner Auskunft nach darin, sich als Betreuer eines behinderten Familienmitglieds anzumelden - unabhängig davon, ob dieses tatsächlich Pflege benötigt oder nicht. Eine andere Möglichkeit ist eine Scheinehe mit einer behinderten Person. Bei einem Programm lassen sich Paare deswegen scheinbar „trennen", wobei der Mann das volle Sorgerecht für die Kinder erhält.

 

 

Seit der Invasion wurden an den ukrainischen Grenzübergängen etwa 6 100 Männer aufgegriffen, die versuchten, mit gefälschten oder in betrügerischer Absicht erhaltenen Genehmigungen auszureisen, sagt Oberstleutnant Olena Trachuk, Sprecherin der Abteilung Chop des staatlichen Grenzdienstes der Ukraine. Die Zahl ist inzwischen auf eine Handvoll pro Woche zurückgegangen.

 

 

Die Grenzschützer konzentrieren sich jetzt darauf, ukrainische Männer zu erwischen, die versuchen, das Land an anderen Stellen entlang der Grenze zu verlassen - nicht an den offiziellen Übergängen. Seit Beginn der Invasion haben sie etwa 13.600 Menschen bei diesem Versuch entdeckt. Dennoch ist Trachuk der Meinung, dass im Chop-Sektor auf jeden gefassten Mann ein weiterer kommt, der nicht entdeckt wird. Ein Drittel der aufgegriffenen Personen wird abgefangen, bevor sie die Grenze erreichen, an Kontrollpunkten oder in Bus- und Bahnhöfen, weil sie keine glaubwürdige Geschichte haben. Einheimische, Bus- und Bahnangestellte haben ein wachsames Auge und verraten potenzielle Wehrdienstverweigerer an die Grenzbeamten.

 

 

Illegale Fluchthelfer sind teuer

Student Oleksiy erwog ebenfalls, illegal über die Grenze zu wandern, erfuhr aber, dass der Preis für einen Führer 5000 Dollar betragen würde. Er meint, dass die Erfolgschancen zu gering sind, um eine solche Summe zu riskieren. Einige versuchen stattdessen, ihre eigenen Routen auf ihren Handys zu planen, sagt Oberst Trachuk, aber sie verirren sich, weil es in abgelegenen Grenzregionen keinen Internetzugang gibt. Bislang wurden 19 Ertrunkene in der Theiß gefunden, die einen Teil der ukrainischen Grenze zu Ungarn und Rumänien bildet.

 

 

Männer, die beim Versuch, über die Grenze zu wandern, erwischt werden, können mit einer Geldstrafe belegt, aber nicht inhaftiert werden. Diejenigen, die ihnen helfen, riskieren eine Gefängnisstrafe. Die Verwendung gefälschter Dokumente ist eine Straftat, der illegale Grenzübertritt hingegen nicht. Wenn es ihnen gelingt, werden sie von den Nachbarländern nicht zurückgeschickt. In der ersten Zeit nach der Invasion wurden die meisten Männer, die versuchten, die Grenze zu überqueren, von Angst getrieben, sagt Trachuk. Jetzt schätzt sie, dass die Hälfte auf der Suche nach Arbeit ist. Diejenigen, die sich dem Militärdienst entziehen wollen, müssen jedoch damit rechnen, von Rekrutierungsoffizieren aufgegriffen und unter Druck gesetzt zu werden. Zu Beginn der Invasion erwog Ivan, ein 42-jähriger Musiker aus Uzhhorod, sich zur Fornt zu melden, änderte aber seine Meinung, als er sah, wie die Särge ankamen. Jetzt, sagt er, hat er ständig Angst, einberufen zu werden: „Ich habe das Gefühl, dass ich in der Luft hänge."

 

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