Die Eule der Minerva
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Die Berliner Mauer war zunächst und vor allem die Manifestation eines fundamentalen Unrechts des Regimes. Den Architekten der israelischen Mauer kommt jedoch nicht in den Sinn, dass ihr Bauwerk niemals das Übel an der Wurzel bekämpfen kann.

Im Jahre 1961 baute das Regime der DDR die Berliner Mauer. Im Jahre 1989 stürzte dieses Regime und mit ihm die Berliner Mauer. War der Bau dieser Mauer im Nachhinein überflüssig? – Ja. – Kann der Bau der Mauer erklärt werden? – Ja, auch. Was lässt sich also über den Mauerbau – fünfzig Jahre danach – sagen? Was immer es ist, kann es nur unter den Bedingungen gesagt werden, denen man unterworfen ist, wenn man über Geschichtliches redet: Man befragt die Eule der Minerva, die ihren Flug bekanntlich erst in der Dämmerung beginnt. Nimmt man allerdings in Kauf, dass Geschichte stets ihren Siegern als Beute zufällt, darf man sich auch fragen, wann die Dämmerung beginnt. Wird nicht auch die Dämmerung – mithin der Zeitpunkt, an welchem man Geschichtliches „legitimerweise“ zu reflektieren beginnen darf – von den Siegern bestimmt? Dass die Sieger voreilig sein können, konnte man kurze Zeit nach dem Mauerfall gewahren, als mit ihr (und dem Zusammenbruch dessen, was sie symbolisierte) das Ende der Geschichte verkündet wurde – diesmal freilich nicht vom Eulen-Philosophen, sondern von einem geschwinden US-Politologen.