Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
> Warum ein Präsident Selensky nicht das Ende der Ukraine bedeutet

Wie ein Präsident Selensky relativ erfolgreich sein könnte

Ein Großteil der intellektuellen Elite, politischen Chatcommunity, weltweiten Diaspora und ausländischen Freunde der Ukraine ist entsetzt über den Ausgang der ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Der Schauspieler, Komiker und Geschäftsmann Wolodymyr Selensky wird, nachdem er im ersten Wahlgang am 31. März bereits auf dem ersten Platz landete, der sechste Präsident der Ukraine.

The European

Der Grund hierfür ist nicht nur, dass der Schauspieler bereits über 30 Prozent derjenigen für sich gewinnen konnte, die am 31. März im ersten Wahlgang zur Urne gegangen waren. Er hatte damit schon im ersten Durchgang knapp doppelt so viele Stimmen erhalten wie Poroschenko. Es hat nun in der Stichwahl auch viele Wähler der übrigen Kandidaten mit signifikanten Stimmenanteilen im ersten Durchgang, vor allem die Unterstützer von Julija Tymoschenko, Juri Bojko und Oleksandr Wilkul, für sich gewonnen. Wie ist diese schicksalhafte Wendung zu interpretieren, und was ist von ihr zu erwarten?

Woher der Aufstieg Selenskys rührte

Die Präsidentschaft Selenskys wird in der postsowjetischen Ukraine eine nicht nur politische, sondern auch historische Anomalie sein. Selensky ist der erste derartige Newcomer, der es so weit nach oben geschafft hat. 2014 wurde der ehemalige Boxchampion Witaly Klitschko Bürgermeister von Kiew. Andere Politiknovizen sind davor und danach ins ukrainische Parlament eingezogen oder auf hohe Ministerienämter gelangt. Noch nie aber war ein derart unerfahrener politischer Neuling das höchste öffentliche Amt der Ukraine bekleidet.

Eine offensichtliche Erklärung für den Aufstieg Selenskys ist, dass die Ukrainer zutiefst von der alten spätsowjetischen und frühen postsowjetischen regierenden Klasse ihres Landes enttäuscht sind. Nach fast dreißig Jahren, in denen entweder relativ prorussische oder offiziell prowestliche Männer aus der vermeintlichen politischen Elite der Ukraine ins Präsidentenamt gewählt wurden, ist sie weiterhin eines der ärmsten Länder Europas. Zwar sind etliche der jüngsten wirtschaftlichen Probleme Folgen des gnadenlosen Hybridrieges Russlands gegen die Ukraine, der Annexion der Krim sowie der Besetzung eines Großteils des Donezbeckens durch moskautreue Paramilitärs im Verbund mit verdeckt agierenden russischen Armee- und Geheimdiensteinheiten. Nichtsdestoweniger werden die nur langsame Erholung vom Schock von 2014 und viele bestehende Probleme des Landes von den meisten Ukrainern eher als Folgen des Scheiterns von Poroschenko & Co. als Reformer und Staatsmänner – auf wichtigen Posten sind nur wenige Frauen zu finden – wahrgenommen, und nicht nur als Ergebnisse der Machenschaften des Kremls betrachtet.

In der Tat gibt es nicht nur viele destruktive Rückwirkungen der anhaltenden politischen Subversion, militärischen Aggression und teilweisen Okkupation der Ukraine durch Russland. Es gibt auch eine Reihe gewichtiger Gründe, warum die Ukrainer so grundsätzlich von ihrer Herrschaftselite enttäuscht sind. Vor diesem spezifischen Hintergrund ist die Entscheidung der Ukraine für einen erfolgreichen Showman, der nicht (oder zumindest nicht sichtbar) mit der alten politischen Klasse des Landes verbunden ist, wenig überraschend.

Dieser Richtungswechsel ist in geringerem Maße Ausdruck einer soziopolitischen Pathologie als der plötzliche Aufstieg von Populisten und Politiknovizen wie Donald Trump in den USA oder Beppe Grillo in Italien. Subjektiv mögen Gefühle der Entfremdung vom „alten System“ bei den Wählern populistischer Politiker und Parteien in der Ukraine und im Westen vergleichbar sein. Objektiv ist die Situation der Ukraine – eines Landes, das unter einem langjährigen Krieg, extremer Armut, systemimmanenter Korruption sowie Mangel an elementarer Sicherheit seiner Bürger leidet – allerdings eine andere.

Die aktuellen politischen Wandlungen in der Ukraine sind daher nicht vollständig mit dem heutigen Aufstieg von Populismus und Outsidern in der Europäischen Union oder Nordamerika vergleichbar. Die täglichen Herausforderungen, denen sich ein/e westliche/r Durchschnittsbürger/in während ihre/seines Lebens gegenüber sieht, sind deutlich weniger existentiell als in der Ukraine. Für Ukrainer ist es – im Vergleich zu EU-Bürgern – weit schwerer, ihre täglichen beruflichen und privaten Angelegenheiten materiell, physisch und psychisch zu bewältigen. Die ukrainische Gesellschaft funktioniert daher anders, als die Gesellschaften der meisten Mitgliedsstaaten von EU und NATO, einschließlich Italiens und der USA.

Warum Selensky ein anderer Populist ist

Die Wahl Selenskys in der Ukraine ist daher nur oberflächlich eine Fortsetzung größerer Transformationen im Parteinwettbewerb und öffentlichen Raum vieler Länder Europas. Der Kontext, in welchem Selensky von früheren politischen Mustern der Ukraine abweicht, wird von anderen Faktoren bestimmt, ja ist womöglich von einer anderen Natur, als scheinbar ähnliche Kuriositäten in entwickelten westlichen Demokratien. Man könnte behaupten, dass eine Wiederwahl von Poroschenko angesichts der negativen Erfahrungen, die die Ukrainer mit ihm und seinen vergleichbaren Vorgängern als Präsidenten gemacht haben, ein Ausdruck regressiver gesellschaftlicher Immobilität gewesen wäre.

Dieser „rationalere“ Aspekt einer Wahlentscheidung für die ansonsten überraschende Kandidatur Selenskys gibt Anlass zur Hoffnung. Er bedeutet, dass der Ausgangspunkt seiner Präsidentschaft sich von den stärker irrationalen Impulsen unterscheidet, die dem scheinbar ähnlichen Aufstieg etwa von Donald Trump zugrundeliegen. Die Qualität der politischen Klasse der USA ist – hinsichtlich ihrer Organisiertheit, Arbeitsstandards, Professionalität und schlichten Anständigkeit – wohl höher einzustufen, als diejenige der alten Parteien- und Wirtschaftseliten der Ukraine. Angesichts dieses grundlegenden Unterschieds, erscheint die Wahl einer Randfigur wie Trump unvernünftiger und impulsiver, als die Entscheidung für den Außenseiter Selensky, berücksichtigt man die traurigen Ergebnisse der Herrschaft der postsowjetischen ukrainischen Politikerklasse der letzten dreißig Jahre.

Viele patriotisch gesonnene ukrainische Intellektuelle finden die Abstimmung ihrer Landsleute für den „Clown“ Selensky dumm, haarsträubend oder sogar gefährlich. Angesichts der historischen Bilanz der ukrainischen politischen Elite und der 2019 zur Verfügung stehenden Alternativen, erscheint die Entscheidung für einen politisch derart unerfahrenen Kandidaten wie Selensky jedoch nicht vollkommen willkürlich. Die Ukrainer haben fünf Mal Politiker zum Präsidenten gewählt, die ihre Karriere im Rahmen des jeweils „alten Systems“, d.h innerhalb der Staatsapparate der UdSSR und jungen Ukraine, gemacht haben. All diese Entscheidungen haben sich als – auf die eine oder andere Weise – letztlich schlecht herausgestellt. 2019 war es in gewisser Hinsicht höchste Zeit geworden, etwas anderes zu probieren.

Wie ein Präsident Selensky relativ erfolgreich sein könnte

Diese Kontextualisierung mindert nicht die beträchtlichen Risiken, die sich mit Selenskys Mangel an Verwaltungserfahrung sowie kompetenten Beratern verbinden. In Kriegszeiten kann sich die Ukraine an und für sich nicht den Luxus politischer Experimente und dilettantischer Staatsführung erlauben. Andererseits haben ukrainische Aktivisten, Politiker und Intellektuelle während der Orangen Revolution 2004 und Revolution der Würde 2013/14 erstaunliche Fähigkeiten im Improvisieren und Mobilisieren gesellschaftlicher Aktivität in Krisensituationen demonstriert. Diese Eigenschaften könnten der Ukraine jetzt gut zupass kommen.

Strategisches Denken und langfristige Planung mögen vielleicht noch nicht zu den größten Stärken der ukrainischen intellektuellen Elite zählen. In Zeiten des Umbruchs hat die ukrainische Zivilgesellschaft jedoch bewiesen, dass sie in der Lage ist, sich auf relativ friedliche und demokratische Weise tief in politische Belange einzumischen und geordnete Transformationen durchzuführen. Die beiden spektakulären ukrainischen Aufstände der vergangenen 15 Jahre haben die neosowjetische Isolation der ukrainischen hohen Politik deutlich verringert. Die Ukraine leidet heute weniger, als andere postsowjetische Staaten unter Neofeudalismus und der Abnabelung einer Art neuen Adels vom Rest der Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund besteht die Hoffnung, dass der Aufstieg Selenskys die wechselseitige Durchdringung der politischen und Zivilgesellschaft der Ukraine fördern wird. Selenskys Mangel an Verbindungen mit der alten Politikerklasse dürfe es der ukrainischen Zivilgesellschaft einfacher machen, auf seine Regierungsmannschaft und -entscheidungen Einfluss zu nehmen. Sollte ein enges Wechselspiel zwischen der künftigen Präsidialadministration und hochprofessionellen Zivilgesellschaft der Ukraine zustandekommen, könnte das die negativen Folgen von Selenskys manifestem Mangel an politischer und staatlicher Führungserfahrung reduzieren.

Zudem ist die Ukraine eine parlamentarisch-präsidentielle Republik, in der ein beträchtlicher Teil der Befugnisse beim Parlament, Regierungsapparat und Premierminister konzentriert sind. Poroschenko hat es als gewiefter Strippenzieher von 2014 bis 2019 vermocht, die formale, verfassungsmäßige Machtaufteilung mittels Schaffung einer ihm mehr oder minder treuen Parlamentsmehrheit sowie informellen politischen Netzwerks teilweise zu neutralisieren. Während und infolge der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2019 wird sich jedoch vermutlich das Machtgleichgewicht zwischen der Werchowna Rada (Oberster Rat) und dem Präsidialamt in Richtung Legislative verschieben. Das politische System der Ukraine könnte dann wieder parlamentarischer werden.

Der neue Präsident der Ukraine würden damit in den Rahmen jener Zuständigkeitsbereiche zurückkehren, die von der Verfassung vorgegeben werden: Er ist offiziell befugt, die Außen- , Sicherheits-, Justiz- und Verteidigungspolitik der Ukraine zu bestimmen. Selensky ist – abgesehen von einigen Englischkenntnissen und einem Juraabschluss – auf keine dieser Aufgaben hinreichend vorbereitet. Er wird daher hoffentlich kompetente Minister und Bürokraten mit entsprechender Hochschulbildung, Berufserfahrung und Reputation in den jeweiligen Bereichen befördern. Idealerweise wird er bescheiden genug sein, um sich insbesondere in seinen ersten Amtsmonaten von ihnen anleiten zu lassen.

 

Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!
Neuen Kommentar schreiben