Warum Trump in den Umfragen aufholt
Von Gewaltenteilung hält der Präsident wenig: Darum hebelt er jetzt mit persönlichen Erlassen das Budgetrecht des Kongresses aus. Diese möglicherweise verfassungswidrige Hemdsärmeligkeit kommt an. Einige Instituten sehen Donald Trump im Aufwind. Und Joe Biden leistet sich derweil weitere rhetorische Patzer.

Dieses Wochenende hat einmal mehr demonstriert, in welch unterschiedlichen Arenen Donald Trump und Joe Biden ihren Kampf ums Weiße Haus führen. Der eine ist ein Revolutionär, der andere ein Etatist. Der eine will sich neues Recht schaffen, der andere akzeptiert das vorhandene. Wohl weil Trump trotz der Defensive, in die ihn die Corona-Krise gedrängt hat, offensiver und energischer agiert, ist der Vorsprung des demokratischen Herausforderers gegenüber dem republikanischen Präsidenten in aktuellen Umfragen geschrumpft.
In der Tat könnten die Unterschiede zwischen den beiden Rivalen kaum größer sein. Trump bleibt der unkalkulierbare Nicht-Politiker, der immer noch so regiert, wie er vor seinem Wahlsieg 2016 als Unternehmer sein Immobilienimperium führte – ganz nach eigenen Vorstellungen und ohne die gefühlte Zumutung irgendeiner Form von Gewaltenteilung. Darum begeistert er jene Amerikaner, die das System für krank und unbeweglich halten und Kompromisse verabscheuen. Zum Beispiel am Samstag, als der Präsident einmal mehr alle Konventionen und möglicherweise die Verfassung brach und mittels Executive Orders, also Präsidialerlassen, den Kongress gleichsam aushebelte. Trump verfügte unter anderem den Aufschub der Zahlung von Einkommenssteuern bis zum Jahresende, die Fortsetzung eines Corona-bedingten Arbeitslosen-„Bonus“ und die Aussetzung der Rückzahlung von Studentenkrediten ebenfalls bis Ende 2020. Das wird gerichtliche Nachspiele haben. Denn die amerikanische Verfassung macht den Kongress sehr eindeutig zum Hüter der öffentlichen Gelder und zum Gebieter über Steuern und Ausgaben. Trump, dem im Vorfeld seiner Erlasse eine Einigung mit den Demokraten misslungen war, kümmert so etwas nicht, er verteilt Geld nach eigenem Gutdünken – und sicher mit Blick auf die Wahl am 3. November.
Nicht-Politiker gegen Nur-Politiker
Daneben agiert Joe Biden als der berechenbare Verteidiger des amerikanischen Systems von Checks and Balances, von Gewaltenteilung. Biden ist der Nur-Politiker, der nach kurzer Anwaltstätigkeit 1972 mit 29 Jahren für Delaware in den US-Senat gewählt wurde und den Sitz bis 2009 nicht mehr aufgab – um dann als Vizepräsident von Barack Obama ins Weiße Haus zu wechseln. Biden, der seinen running mate diese Woche vorstellen wird, antwortete soeben auf die hypothetische Frage nach einer möglichen Anklage des Justizministeriums gegen Trump nach dessen Amtszeit, er wisse nicht, ob das gut für die Demokratie wäre, würde sich einem solchen Ansinnen aber nicht in den Weg stellen. Das sind Einerseits-Andererseits-Floskeln, die für Bidens Erfahrung und für die Vernunft ausgleichender Politik sprechen – aber nicht dafür, dass der Kandidat klare Positionen hat und für sie kämpfen würde.
Wenn Trump in seiner Arena Punkte macht, dann mit derartigen Alleingängen angeblich zum Wohl des einfachen Amerikaners. In zwei wichtigen Umfragen auf nationaler Ebene hat er soeben den Vorsprung des führenden Biden verkürzt. Hill-HarrisX, durchgeführt im Auftrag des renommierten Plattform TheHill.com, sieht 43 Prozent der Wähler auf Seiten von Biden und 40 Prozent bei Trump. In der vorangegangen Hill-HarrisX-Umfrage im Juli betrug der Vorsprung des Demokraten noch sieben Prozentpunkte. Alarmierend für die Demokraten muss sein, dass der Präsident nicht nur bei Wählern im ohnehin Trump-freundlichen Mittleren Westen zulegen konnte (von 38 auf 42 Prozent), während Biden dort deutlich verlor (von 45 zu 39 Prozent). Auch bei den „Unabhängigen“, jenen Wechselwählern zwischen den beiden großen Parteien, hat Trump laut Hill-HarrisX um vier Punkte zugelegt und führt nun mit 35 zu 33 Prozent vor Biden.
Geschrumpfter Vorsprung
Die Demoskopen von Rasmussen Reports, die Trump häufig gute Werte bescheinigen, sehen den Vorsprung Bidens ebenfalls auf drei Prozentpunkte geschrumpft – er führt mit 48 zu 45 Prozent, während er im Juli noch mit sechs Punkten (48 zu 42 Prozent) vorne lag.
Überschätzen darf man diese Verschiebung nicht. So wird von Trump-nahen Websites zwar die aktuell geschrumpfte Differenz zwischen den beiden (noch nicht einmal offiziell bestätigten) Kandidaten triumphierend vermeldet. Aber dass Rasmussen in der drittjüngsten Umfrage in der ersten Juli-Hälfte den Vorsprung Bidens nur bei zwei Prozentpunkten sah, wird dabei unterschlagen. Und im Durchschnitt der von RealClearPolitics.com gesammelten Erhebungen auf nationaler Ebene führt Biden relativ stabil mit 6,4 Prozentpunkten - was den Herausforderer wohl mehr beruhigen würde, wüsste er nicht, dass vor vier Jahren, Ende Juli/Anfang August 2016, Hillary Clinton mit drei bis zehn Prozentpunkten vor Trump zu liegen schien.
Allerdings liegt Biden nicht nur bei US-weiten (und wenig aussagekräftigen) Umfragen vorne, sondern auch in den wichtigsten Battleground-States Florida, Wisconsin, North Carolina, Pennsylvania, Michigan und Arizona. Im Durchschnitt führt der Demokrat mit 5,2 Punkten. In Florida, das Trump im November holen muss, um im Weißen Haus bleiben zu können, beträgt Bidens Vorsprung glatte vier Prozentpunkte.
Doch alle Siegesfanfaren kämen zu früh. Biden hat weiterhin einen gefährlichen Gegner – sich selbst. Er ist mit 77 Jahren ein Kandidat, von dem niemand mehr etwas erwartet, außer eben, Trump abzulösen. Ein vormaliger Trump-Wähler, die sich in einer Gruppe mit dem Namen Republican Voters Against Trump organisiert hat, sagte unlängst in einem Videospot, er würde eher eine Konservendose mit Tomaten als erneut Trump wählen. Das beschreibt ungefähr das Ausmaß der Begeisterung für Biden. Er ist der Kandidat ohne Charisma auf dem Weg zum Präsidenten ohne Eigenschaften – zumindest ist das sein aktuelles Image.
Neben dieser Konturenlosigkeit, die wenig Charisma freisetzt, hat Biden eine zweite Schwäche. Er ist berüchtigt für seine rhetorischen Missgeschicke. Vergangene Woche sagte er in einem Interview: „Im Gegensatz zur afroamerikanischen Community, von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, ist die Latino-Community eine unglaublich diverse Community mit unglaublich unterschiedlichen Einstellungen zu verschiedenen Themen.“ Das klingt, als betrachte Biden jene Schwarze, auf deren Stimmen und auf deren hohe Wahlbeteiligung er im November unbedingt angewiesen ist, als recht amorphe Masse. Trump spießte den Lapsus sofort via Twitter auf und Biden versicherte in einer ganzen Reihe von Tweets, er wolle der afroamerikanischen Gemeinschaft keineswegs Diversität und eine Bandbreite an Meinungen und Absichten absprechen – was er aber doch mehr oder weniger eindeutig gesagt hatte, wohl vor dem realen Hintergrund, dass Afroamerikaner laut Umfragen zu 92 Prozent Biden unterstützen wollen. Biden wäre trotzdem besser beraten, sich der schwarzen Stimmen nicht zu sicher zu sein. Im Mai erst hatte er einen afroamerikanischen Radiomoderator, der nach seiner Bilanz beim Thema Bürgerrechte fragte, nassforsch geantwortet: "Wenn Sie ein Problem haben, herauszufinden, ob Sie für mich oder für Trump sind, dann sind Sie nicht schwarz." Das klang arg überheblich – so als hätten schwarze Wähler ihn nötiger als er die Stimmen der Schwarzen.
Die Überheblichkeit des Senators aus Delaware
Biden hielt sich immer für die Idealbesetzung für das Weiße Haus. Im Wahlkampf 2008, als er längst Obamas Vizepräsidentschaftskandidat war, ließ er Journalisten im Hintergrund noch regelmäßig wissen, dass ja eigentlich eher viel qualifizierter sei für das Weiße Haus. Vor umworbenen Spendern warnte der selbstbewusste Senator zudem, der außenpolitisch völlig unerfahrene Obama würde „in weniger als sechs Monaten“ nach seinem Amtsantritt international so getestet wie einst John F. Kennedy, durch Entwicklungen also, die vergleichbar wären mit dem sowjetischen Versuch der Stationierung von Atomraketen auf Kuba. Obama war außer sich und der republikanische Kandidat John McCain hatte grandioses Material für den nächsten Wahlkampfspot gegen ihn.
Damals wirkte Biden agiler als er es heute ist. Vielleicht wäre ihm auch seinerzeit ein Missgeschick passiert wie neulich, als er sagte, er trete "an, um Joe Biden zu schlagen". Aber 2008, vor zwölf Jahren, hätte man es nicht seinem Geburtstdatum zugeschrieben. Sollte Biden sich weitere Patzer dieser Art leisten, kann der Vorsprung schnell dahinschmelzen. Das Trump-Team lauert darauf. Der Präsident hat seit seinem zu späten Reagieren auf Corona und seit dem wirtschaftlichen Absturz der USA zu wenig auf der Haben-Seite, als dass sein Team eine wirklich offensive Kampagne über die Erfolge Trumps fahren könnte. Hoffen darf der Präsident aber weiterhin darauf, dass ihm sein Herausforderer den Ball gewissermaßen auf den Elfmeter-Punkt legt.