Das müssen Sie über den nächsten US-Präsidenten Joe Biden wissen
Er wurde als Kind wegen seines Stotterns gemobbt, er verlor die erste Frau und eine Tochter bei einem Verkehrsunfall, er war nicht Barack Obamas erste Wahl für seine Nachfolge. Aber der langjährige Senator aus Delaware hat sich durchgebissen – und kehrt am 20. Januar zurück ins Weiße Haus, in dem er acht Jahre lang als Vizepräsident saß

Er hat es geschafft, im dritten Anlauf: Joe Biden zieht am 20. Januar 2021 ins Weiße Haus. Zwar sind noch Nachzählung abzuwarten und im Zweifel auch gerichtliche Auseinandersetzungen. Aber der Kreis der Getreuen um Donald Trump, die an sein Scheitern glauben, ist klein geworden. Der Präsident will die Wahl Bidens nicht anerkennen, hat er am Samstag bekräftigt. Gleichwohl darf man jetzt davon ausgehen: Der vormalige Vizepräsident Biden, geboren im Nordosten des Bundesstaates Pennsylvania und aufgewachsen in Delaware, das er von 1973 bis 2009 im Senat vertrat, wird der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Der President-elect, wie Bidens offizieller Titel nach der Bestätigung seines Wahlsieges bis zur Inauguration im Januar lauten wird, ist alt. Als er im Wahlkampf 2008 running Mate von Barack Obama und dann acht Jahre dessen Vizepräsident war, wirkte Biden noch drahtiger, agiler, vor allem ambitionierter. Gegenüber Journalisten ließ er deutlich durchblicken, dass er mit seiner langen Senatserfahrung und seiner Fähigkeit, über die Parteilinien hinweg Kompromisse auszuhandeln, doch eigentlich der viel geeignetere Kandidat sei als dieser Jungspund, geboren auf Hawaii, der gerade erst seit 2005 als Junior Senator für Illinois die Bundespolitik zu entdecken begann.
Groll gegen Obama
Der Groll kam nicht von ungefähr. In jener Präsidentschaftswahl hatte Biden eigentlich seinen Namen auf dem Ticket der Demokraten fürs Weiße Haus sehen wollen. Dann aber äußerte er sich 2007 im Aufgalopp zum Bewerbungsrennen über den ebenfalls in den Startlöchern sitzenden Obama. »Ich meine, wir haben den ersten Mainstream-Afroamerikaner, der sich artikulieren kann, intelligent und sauber und ein gutaussehender Kerl ist«, sagte Biden dem New York Observer in einem Gespräch über das Bewerberfeld seiner Partei. »Ich meine, das ist wie für einen Roman, Mann.« Der Politiker, dem bis heute der Ruf nacheilt, er lasse keinen Fettnapf aus, entschuldigte sich. Seine Worte, vor allem das Lob dafür, dass der Afroamerikaner »sauber« sei, seien aus dem Kontext gerissen worden. Doch mit der Nominierung wurde es nichts mehr, stattdessen kam Obama zum Zug.
Erstmals hatte sich der irischstämmige Katholik Biden 1988 um die Kandidatur bemüht. In einer Wahlkampfrede wollte der junge Senator auf Ungerechtigkeiten im Bildungssystem hinweisen: »Als ich hierher kam, überlegte ich mir, warum wohl Joe Biden der erste in seiner Familie ist, der jemals eine Universität besucht hat.« Dann zeigte er auf seine unter den Zuhörern sitzende Frau und fuhr fort: »Warum ist meine Frau, die hier im Publikum sitzt, die erste in ihrer Familie, die ein College besucht hat?«
Schön gesagt? Schön geklaut! Biden hatte abgekupfert bei Neil Kinnock, dem Führer der britischen Labour Party, der einige Monate zuvor eine Rede sehr ähnlich aufgezogen hatte: »Warum bin ich der erste Kinnock seit 1000 Generationen, der auf die Universität gehen konnte?« Ein Fingerzeig auf die Gattin im Auditorium: »Warum ist Glenys die erste Frau in ihrer Familie seit 1000 Generationen, die eine Universität besuchen konnte?«
Als man Bidens frühere Reden nun genauer unter die Lupe nahm, fanden sich weitere Plagiate, unter anderem aus Reden von John F. Kennedy und dessen Bruder Robert. Zudem hatte er seine akademischen Leistungen deutlich aufgehübscht und tatsachenwidrig behauptet, er sei in der Bürgerrechtsbewegung mitmarschiert. Kurz darauf zog Biden seine Bewerbung zurück.
Schwindeleien und Plagiate
Die Lügen und Übertreibungen von Trump werden zu Recht kritisiert. Biden hat sich allerdings auch wiederholt die Realität zurechtgebogen. 2012 kokettierte er in einer Rede im Bundesstaat Ohio zunächst mit seinem Alter (er habe via Internet sein Gedächtnis gegenchecken müssen) und prahlte dann, 1963 habe er mit dem Football-Team der University of Delaware gegen die Bobcats der Ohio University 29 zu 12 gewonnen. Die Irish Times hat das überprüft – und festgestellt, dass der Jurastudent nie auf der Ebene seiner Universität Football gespielt habe.
Vielleicht hat Biden schlicht Glück, dass der Mann, gegen den er im November 2020 gewinnen will, so regelmäßig lügt, dass seine eigenen Angebereien als vernachlässigenswert angesehen werden. Oder liegt es daran, dass die Medien einen Demokraten (und vielleicht auch jeden anderen Republikaner) mit mehr Nachsicht behandeln als Trump? 2020 schließlich nominierten die Demokraten Biden ohne jeden Enthusiasmus. In den parteiinternen Primaries musste er sich (wie Hillary Clinton vier Jahre zuvor) einigermaßen mühsam gegen Senator Bernie Sanders durchsetzen. Sanders ist kein Parteifreund, sondern ein Unabhängiger und selbst erklärter »demokratischer Sozialist«, der aber im Senat mit den Demokraten abstimmt. Auch Kamala Harris hatte sich beworben. Am Ende fiel die Entscheidung für Biden, weil er von vielen zu durchschnittlichen oder zu unbekannten oder zu unerfahrenen Bewerbern immer noch die zuverlässigste Bank zu sein schien.
Als Obamas Vizepräsident war Biden trotz seiner anfänglichen Sticheleien, dass er ja eigentlich viel besser geeignet sei, loyal. Vielleicht loyaler zum Präsidenten als der zu ihm. Kaum war das Team im Amt, sagte der oft verschwafelte Biden auf eine Journalistenfrage: »Selbst wenn wir alles richtig machen ... besteht immer noch eine 30-prozentige Chance, dass wir etwas falsch machen.« Was der Vize damit ausdrücken wollte, ist bis heute nicht gänzlich geklärt. Ein Reporter fragte kurz darauf den Präsidenten, ob Biden denn zumindest nicht den Plan zur Bankenrettung nach der Finanzkrise oder das Konjunkturprogramm der neuen Administration gemeint habe. »Wissen Sie, ich erinnere mich nicht genau, worauf Joe sich bezog – was ja nicht überraschend ist«, sorgte Obama daraufhin für Lacher.
Als sich seine zweite Legislaturperiode dem Ende zuneigte, unterstützte Obama nicht seinen Vize Biden, der ebenfalls gern sein Nachfolger geworden wäre, sondern seine einstige parteiinterne Gegenkandidatin Hillary Clinton. Woran das lag? Biden ist ein erfahrener Politprofi, der über viele Jahre dem Senatsausschuss für auswärtige Angelegenheiten zunächst als Mitglied, dann als Vorsitzender angehört hatte. Außerdem hatte er im Justizausschuss gesessen. Aber trotz dieser hohen Kompetenz hat Obama seinen Stellvertreter möglicherweise nie so ernst genommen wie seine Außenministerin. Obama und Clinton waren beide Aktenfresser, sie kamen bestens präpariert mit sämtlichen schon durchgearbeiteten Unterlagen in Sitzungen. Biden, so wurde erzählt, habe sich mitunter schlecht vorbereitet dazu gesetzt, eine Zeit lang zugehört und plötzlich einen unpassenden Einwurf gemacht, der vom Thema völlig wegführte. Manche Anwesenden verdrehten die Augen, andere nutzten die Pause, um ihre Notizen durchzugehen (Smartphones sind bei den Besprechungen mit dem Präsidenten verboten). Der Vizepräsident wirkte dann wie der wunderliche Onkel, der bei den Familienfeiern mit am Tisch sitzt und immer wieder alte, etwas abseitige, selten verständliche Geschichten erzählt.
Warum er als Schüler gemobbt wurde
Biden stotterte als Kind. Darum war er in seinem ersten Highschool-Jahr als einziger Schüler von der Verpflichtung ausgenommen, vor 250 Mitschülern eine Präsentation vorzutragen. Er wurde als »Joe Impedimenta« verspottet und gemobbt, »der sprachbehinderte Joe«. In seiner 2008 erschienenen Autobiografie schreibt Biden, er könne sich an die damalige Scham noch erinnern als sei es gestern gewesen. Und obwohl er mitunter den Eindruck gehabt habe, »die Welt geht unter«, würde er heute »die dunklen Tage des Stotterns« nicht nachträglich aus seiner Vita entfernen wollen. Denn diese Behinderung habe ihn, wie ein Geschenk Gottes, stark gemacht. Er habe sich dann auf Sport konzentriert, »und das wurde mein Ticket zur Akzeptanz«, schreibt Biden. »Selbst wenn ich stotterte, war ich der Junge, der sagte: Gib mir den Ball!«, auch wenn er als Achtjähriger der Kleinste auf dem Platz war. »Und sie gaben ihn mir.«
Die schlimmeren Schicksalsschläge standen da noch aus. Wenige Wochen nach seiner ersten Wahl 1972 in den Senat starben seine erste Frau Neilia und die einjährige Tochter Naomi bei einem schweren Autounfall. Die beiden Söhne Beau und Hunter, drei und zwei Jahre alt, waren ebenfalls an Bord und wurden verletzt. Der Vater war nicht mitgefahren. Er überlegte, sein Mandat nicht anzunehmen, um ganz für die beiden Jungs sorgen zu können. Parteifreunde überzeugten ihn, die politische Karriere fortzusetzen. Drei Jahre später lernte er seine heutige Frau Jill kennen, die beiden heirateten 1977.
Sohn Beau folgte ihm in die Politik und wurde 2006 und 2010 zweimal zum Generalstaatsanwalt von Delaware gewählt. In dieser Zeit freundete er sich mit Kamala Harris an, damals Amtskollegin in Kalifornien. Beau Biden wollte 2016 für das Gouverneursamt kandidieren. Doch im Jahr zuvor starb er an einem Hirntumor. Dass sich Obama in jener Zeit für Hillary Clinton als seine Nachfolgerin stark machte, wird auch damit erklärt, dass man den Vater, der zum zweiten Mal ein Kind verloren hatte, in seiner Trauer nicht belasten wollte.
Wie lange kann Biden das Amt wahrnehmen?
Der jüngste Sohn, Hunter Biden, ist ebenfalls Jurist und Mitbegründer einer Investmentfirma. Sie war sowohl in China als auch in der Ukraine aktiv. Es gab nie Beweise dafür, dass der Vater seine Hände dabei im Spiel hatte, dennoch sorgte man sich in der Obama-Administration, es könne der Eindruck eines Interessenkonflikts entstehen. Donald Trump attackierte Joe Biden wiederholt mit dem Vorwurf, Hunter sei auf Vermittlung des damaligen Vizepräsidenten in den beiden Ländern reich geworden. Im September 2019 stieg Hunter Biden aus seiner Investmentfirma aus, um jeden weiteren Anschein von Korruption zu vermeiden. Im Oktober 2020 allerdings, kurz vor der Wahl, wurden Dokumente bekannt, die belegen sollen, dass Joe Biden nicht nur über China-Geschäfte von Hunter Bescheid wusste, sondern mit seinem Namen und seiner Reputation 2017, also nach seiner Zeit als Vizepräsident, Einfluss darauf genommen habe. Die US-Medien griffen das Thema nur halbherzig auf, wohl auch aus der Sorge, in letzter Minute würde ihnen gefaktes Material untergeschoben. Jetzt, nach der Wahl zum Präsidenten, dürften sich manche Journalisten mit den Vorwürfen intensiver befassen.
Joe Biden wird in wenigen Tagen, am 20. November, 78 Jahre alt. Es ist kaum damit zu rechnen, dass er in vier Jahren nochmals antritt. Fraglich ist zudem, ob er überhaupt die kommende Legislaturperiode durchhalten wird. Dann würde Kama Harris übernehmen, Tochter von Einwanderern aus Indien und Jamaika, Mutter Hindu, sie selbst katholisch, verheiratet mit einem Juden, der gelebte Erfolgsbeweis für die amerikanische Einwanderungsgesellschaft. Die kluge und souveräne Harris gehört wie Biden dem moderaten Flügel der Demokraten an. Aber im Vorwahlkampf vertrat sie dezidiert linke Positionen, unter anderem die Forderung nach einem nur noch staatlichen Gesundheitssystem, was die Abschaffung der privaten Krankenversicherungen bedeuten würde. Biden und Harris wären gut beraten, zu derlei Gedankenexperimenten im Amt dauerhaft Abstand zu wahren. Die „Aussöhnung“ des amerikanischen Volkes, die Joe Biden ins Zentrum seines Wahlkampfes gerückt hat, wird nur gelingen, wenn er die bürgerliche Mitte nicht vor den Kopf stößt und im Nachhinein Donald Trumps Warnung vor einem „Linksschwenk“ der USA nicht wahr werden lässt.
Diese Kolumne beruht in Teilen auf dem soeben, im Oktober 2020, erschienenen Buch von Ansgar Graw: Trump verrückt(e) die Welt. Was nun? Verlag Langen Müller, München, 340 Seiten, 15 Euro, das Sie beispielsweise hier erwerben können