Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
> Verfassungsreform in der Türkei

Demokratie aus dem Baukasten

Im September hat die Türkei mit 57,9 zu 42,1 Prozent der Stimmen in einer Volksabstimmung einem Reformpaket mit 26 beabsichtigten Verfassungsänderungen zugestimmt. Dieses Ergebnis wurde von der amtierenden AKP freudig begrüßt – als wichtiger Schritt in Richtung der Demokratisierung des Landes. Diese Annahme ist falsch.

The European

Die gegenwärtige Verfassung der Türkei trat zur Zeit der Militärherrschaft 1982 in Kraft. In der heißen Phase vor der Wahl hatte die AKP die Wahl hochstilisiert als Entscheidung zwischen der Beibehaltung des alten Systems von autoritärer, militärischer Führung und der Annahme der demokratischen Freiheit (die auch von der EU gefordert wird). In öffentlichen Kundgebungen überall im Land hat Premierminister Tayyip Erdogan die Gegner des Reformpakets beschuldigt, Rädelsführer zu sein, die das Land wieder zurück in seine düstere Vergangenheit ziehen wollten, anstatt es vorwärts zu bringen in eine vielversprechende Zukunft. Durch solch manichäische Rhetorik wurde die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Aussehen, nicht auf den Inhalt des Reformpakets gelenkt. In der Tat hat eine öffentliche Umfrage Anfang September ergeben, dass fast die Hälfte der türkischen Wählerschaft nicht in der Lage war, auch nur eine der beabsichtigten Verfassungsänderungen zu nennen.

Ein Kompromiss wurde ausgeschlagen
Die Opposition hatte angeboten, 24 der beabsichtigten Änderungen zuzustimmen. Dies hätte dazu geführt, dass die Änderungen vom Parlament erlassen worden wären, ohne Ausschöpfungsquote oder Referendum. Somit hätten nur zwei der kontroversesten Änderungen zur Wahl gestanden. In diesen zwei Vorschlägen ging es um Einfluss der Regierung bei der Benennung von Ämtern der Judikative. Die AKP weigerte sich, diesem Kompromiss zuzustimmen. Sie bestand lieber darauf, das Paket als Ganzes zum Volksentscheid zu bringen. Dem Wähler blieb nur die Option, das Änderungspaket als Ganzes abzusegnen oder zurückzuweisen. Ein paar der weniger kontroversen Änderungen sind zweifellos positiv, wie zum Beispiel die Einführung eines Ombudsmanns und der Vorschlag, Armeeangehörige haftbar zu machen für die Strafverfolgung vor Zivilgerichten. Andere wiederum erscheinen zwar auf den ersten Blick sinnvoll, aber es ist unsicher, wie sie implementiert werden sollen. Zum Beispiel gibt es einen Änderungsvorschlag zum Abbau legaler Hürden im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Doch erst im August dieses Jahres hatte Erdogan öffentlich erklärt, dass er nicht an eine Gleichstellung von Männern und Frauen glaube. Die zwei meist umstrittenen Änderungen beziehen sich auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs (HSYK). Die AKP argumentiert nicht ohne Recht, dass beide von Säkularisten dominiert werden und ideologisch dominierte Entscheidungen treffen. Die EU moniert dies schon seit Langem. Aber anstatt eine Unabhängigkeit der Gerichte zu garantieren, erlauben die neuen konstitutionellen Änderungen der AKP, die Richterposten mit politischen Amtsträgern zu besetzen. Dabei hatte die EU explizit gefordert, dass der Justizminister nicht Mitglied der HSYK sein sollte. Unter dem kürzlich verabschiedeten Reformpaket ist der Justizminister jedoch nicht nur Mitglied der HSYK, er ist ihr Vorsitzender.
Die AKP zementiert ihre Machtposition
Vielleicht noch verstörender als das, was das Reformpaket beinhaltet, ist, was ausgelassen wurde. Es macht keinen Versuch, die Diskriminierung der türkischen Kurden und Alevi-Minderheiten zu bekämpfen – eine langjährige Forderung der EU. Und obwohl das Militär nun an öffentlichen Gerichten verurteilt werden kann, wurde kein Versuch unternommen, die Beschränkungen aufzulockern, die es fast unmöglich machen, Staatsdiener strafrechtlich zu verfolgen und Immunitäten aufzuheben. Die AKP hatte dies 2002 noch versprochen. Aber was am meisten ins Gewicht fällt, ist das Fehlen einer Wahlrechtsreform. Durch die Zehn-Prozent-Hürde werden die großen Parteien gestärkt und die Demokratie geschwächt. Momentaner Nutznießer: die AKP.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!
Neuen Kommentar schreiben