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> Verantwortung in der Öffentlichkeit

Geradlinigkeit nach Zickzackfahrt

Artikel vom

Wir waren schon sehr entwöhnt. Dass jemand sofort Verantwortung für sein Tun übernimmt und nicht erst zurücktritt, wenn es zu spät ist. Frau Käßmann hat uns daran erinnert, dass und wie man Verantwortung übernehmen kann. Wird Jürgen Rüttgers sich ein Beispiel daran nehmen?

The European

*Posener: Manchmal, lieber Alexander, glaube ich an die göttliche Gerechtigkeit. Da hatten wir im letzten Jahr diese unsägliche Pro-Reli-Kampagne in Berlin, und an allen Kirchen prangte die Losung: "Werte brauchen Gott." So, als wären gottlose Menschen irgendwie weniger moralisch. Und bums, jetzt erwischt es die Chefin der EKD besoffen im Auto. Ich finde es schon irre: Wenn es darum geht, der Kirche Pfründe in Gestalt der staatlich bezahlten Religionslehrer zu erhalten, heißt es: "Werte brauchen Gott." Das heißt, wer Gott hat, der ist auch moralischer. Und wenn ein Priester an Knaben herumfummelt oder eine Bischöfin in einem schweren Auto betrunken durch die Gegend kurvt, heißt es: "Wir sind auch nur Menschen." Kopf, ich gewinne. Zahl, du verlierst.* Görlach: Frau Käßmann hat sich falsch verhalten und die Konsequenzen daraus gezogen. Das ist geradlinig. Selten liegen Anerkennen von Schuld und die Exekution der daraus resultierenden Konsequenzen so nahe beieinander. Ich finde, Sie verwechseln hier was: Zu den christlichen Werten gehört auch die Vergebung. Wer Bereitschaft zur Umkehr zeigt, einsichtig ist, dem soll die Möglichkeit dazu gegeben werden. So ist übrigens unser Strafvollzug aufgebaut: hin zu einer Reintegration in die Gemeinschaft.

Geradlinigkeit als Zeichen von Stolz
*Posener: Ich habe heute im Bus eine interessante Variante zur Käßmann-Diskussion gehört. Besoffen Auto fahren, das sei keine Sünde, nur ein Fehler. Allerdings einer, der das Amt und die Person beschädige, denn man würde ihn ja der Bischöfin und EKD-Vorsitzenden immer wieder vorhalten. Jedenfalls würden das jene tun, die nicht nach der christlichen Lehre des Vergebens handeln. (Und schauen Sie mal auf kreuz.net, um Katholiken zu finden, die alles Mögliche sind, nur keine Christen in Ihrem Sinne!) Zwar würden die echten Christen Käßmann natürlich verzeihen - aber gerade das wäre der Bischöfin unerträglich, die ihren Rücktritt auch mit ihrer persönlichen "Geradlinigkeit" begründete. Diese Geradlinigkeit sei aber nichts anderes als Stolz - und der, anders als besoffen Auto fahren, sei nun wirklich eine Sünde, eine Todsünde sogar.* Görlach: Wir sind einfach nicht mehr daran gewöhnt, dass Persönlichkeiten, die in Vorbildfunktion in der Öffentlichkeit stehen, Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Frau Käßmann hätte versuchen können, sich an ihr Amt zu klammern. Das hat sie aber nicht. So ist sie in der Schwäche, nach ihrem Fehler oder sündhaften Verhalten, zu neuer Stärke gekommen. Das ist nicht Stolz, sondern zutiefst christlich. Paulus schreibt: "Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark."
Auch der Papst müsste zurücktreten
*Posener: Na, das freut mich, diese ökumenische Solidarität, Alexander! Ich persönlich weine der Bischöfin keine Träne nach. Sie mischte sich mit apodiktischen Urteilen in Dinge ein, von denen sie keine Ahnung hatte, und war auch theologisch nicht firm, ja nicht einmal bibelfest. Ich habe ihr darum auf starke-meinungen.de bereits am 16. Januar geraten, sich weniger um schlagzeilenträchtige Themen zu kümmern und mehr um die Bibel. Dazu hat sie jetzt als einfache Pastorin - nach dem obligaten Gang durch die Talkshows - hoffentlich Zeit.* Görlach: Da freue ich mich, dass Sie sich Bibelexegese von Frau Käßmann wünschen. Aber sagen Sie: Finden Sie nicht, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen – Kirchenleute, PolitikerInnen –, Verantwortung übernehmen sollten für das, was sie tun? Ich meine, Herr Rüttgers müsste zurücktreten, spätestens wenn seine Behauptung, er habe nichts von den umstrittenen Werbebriefen gewusst, nicht mehr haltbar sein wird .
Zu lügen ist eine lässliche Sünde
*Posener: Klar. Und müsste dann nicht auch der Papst zurücktreten, der doch genau weiß, was sich seit Jahrzehnten in der Kirche in Sachen Missbrauch abspielt, und nichts unternommen hat, um die Aufklärung voranzutreiben? Schließlich behauptet er von sich, "die Stimme der moralischen Vernunft der Menschheit" zu sein. Aber das wird nicht passieren. Es gibt Banken, die "too big to fail" sind. Und Menschen auch.* Görlach: Klar, und die Kanzlerin auch, denn sie wusste ja, was in der DDR abging und im Dritten Reich. Wie, das ist jetzt was anderes? Genau: so wie beim Papst auch: Wenn die Kirche in Irland was verbockt, müssen dort die Repräsentanten für sich den Stecker ziehen. Dort ist es aber so, dass der Chef der Bischofskonferenz damals noch nicht im Amt war. Ebenso wie die Fälle, die nun aus Deutschland bekannt werden, zurückliegen. Ich konkretisiere aber gerne noch mal für Sie: Verantwortung übernehmen für Dinge, die man selbst zu verantworten hat. Also gerne noch mal die Frage in Richtung Nordrhein-Westfalen. Oder ist Herr Rüttgers Ihrer Meinung nach auch "too big to fail"?
Moral gegen Moralisierung
*Posener: Ja. Wenn er jetzt zurücktritt, kann die CDU die Wahl dort nicht gewinnen. Außerdem ist das, was Rüttgers getan haben soll, eine Lappalie. Meine Güte, in den USA ist es üblich, dass Großsponsoren des Präsidenten eine Nacht in Lincolns Bett im Weißen Haus verbringen dürfen oder mit einem Botschafterposten belohnt werden. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass jemand dafür bezahlt, ausgerechnet mit Jürgen Rüttgers zu plaudern, aber wer das will ... bitte sehr, wem schadet das? Nun kann es sein, dass er darüber gelogen hat. Es glaubt kaum jemand, dass er von dieser Vermarktungsaktion nichts wusste. Aber Lügen gilt in der CDU als lässliche Sünde. Das ist das katholische Erbe, vermute ich. Roland Koch ist damals ja auch nicht wegen der "jüdischen Vermächtnisse" zurückgetreten. Erst bei "Lügilanti" wurde Lügen in Hessen zum Staatsverbrechen ernannt. Nein, ich bin dagegen, dass man an Politiker normale moralische Maßstäbe legt. Die Politik ist ein schmutziges Geschäft, und wer sich nicht dreckig machen will, muss draußen bleiben, sollte sich aber nicht über diejenigen empören, die das Geschäft für ihn erledigen. Das ist ungefähr so, als verlangte man von Soldaten, bitte schön niemandem wehzutun. Was wir, siehe Kunduz, auch zu tun geneigt sind. Ich schlage einen Tausch auf Gegenseitigkeit vor: Die Politiker hören auf, von der Moral zu reden, und wir hören auf, uns moralisch über sie zu empören. Wenn sie ihren Job richtig machen und sich ansonsten an die Gesetze halten, sollen sie meinetwegen privat sein, wie sie wollen, und die Grauzone zwischen völlig in Ordnung und eindeutig illegal fantasievoll ausnutzen. Bei den Kirchen ist es prinzipiell anders, weil sie für sich beanspruchen, eine moralische Instanz zu sein. Wenn dann, so wie Sie es für Irland schildern, die katholische Kirche so lange den tausendfachen Missbrauch deckt, bis die verantwortlichen Kleriker pensioniert sind, sodass die gegenwärtigen Kirchenfürsten dafür nicht belangt werden können, so mag man in Dublin und Rom glauben, man sei fein heraus. Man beweist aber nur, dass man nicht wirklich an das glaubt, was man predigt. Freilich ist das nichts Neues.* Görlach: Ich bin der Auffassung, dass Moral ein öffentliches Gut ist. Eine Gesellschaft kommt ohne sie und ohne ein Ethos nicht aus. Wenn Sie denen, die die Gesellschaft repräsentieren, moralisches Handeln nicht mehr abverlangen, um den Preis, dass die Teile der Gesellschaft, die sie repräsentieren, sie nicht mehr auf mangelnde Moral ansprechen, dann haben wir eine amoralische Gesellschaft. Davon zu unterscheiden ist natürlich eine moralisierende Gesellschaft. Der Fehler, den Bischöfin Käßmann gemacht hat, kann jedem passieren. Von daher enthalte man sich einer moralisierenden Bewertung. Sie wissen doch, was der Herr spricht: "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein." *Posener: Moment. Jesus sprach das zu den Pharisäern, die ihm eine Ehebrecherin brachten. Er sprach also zu den selbst ernannten Tugendwächtern, die er selbst als "Natterngeschlecht" beschimpfte. Was ihm zuwider war, das war ja eben die öffentlich zur Schau gestellte Moral: "Lass nicht einmal deine linke Hand wissen, wenn deine rechte Hand Almosen gibt." Wer - wie Sie - von Politikern und anderen Vertretern der Gesellschaft Moralität fordert, fördert in Wirklichkeit das Pharisäertum. Man kennt den Spruch: Wer vom Schwert lebt, wird durch das Schwert sterben. Aber das gilt genauso von der Moral. Wie der Fall Käßmann beweist.*
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