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> Unvereinbare Experten-Sichtweisen in der Euro-Krise

Expertise-Krise

In der Euro-Krise sind die Experten vor allem eins – uneinig. Die Wirtschaftswissenschaft hat also eine immense Bringschuld: Ein öffentlicher Dialog über die Krise ist dringend notwendig.

The European

Für politisch, ökonomisch und rechtlich Interessierte gibt es dieser Tage wenig Ruhe: Unser Gemeinwesen ist angesichts der hartnäckigen Finanzkrise, des parallelen Marathons an EU-Gipfeldiplomatie und der dazu anstehenden höchstrichterlichen Befunde fundamental bedroht. Zwei zentrale Fragen stellen sich: Wer oder was hat die Krise verschuldet, und was sind wirksame Gegenstrategien? Im internationalen Diskurs dominieren vier grundlegend divergierende Sichtweisen, die auf zwei Ursachendiagnosen sowie zwei empfohlenen Problemlösungen beruhen. _Version A: Die „Schuldenländer“ haben eine unverantwortliche Politik betrieben._ Daher sollten sie entweder A.1.) aus der Euro-Zone verwiesen werden, oder A.2.) unter Kuratel gestellt und "zum Sparen gezwungen":http://www.theeuropean.de/patrick-mardellat/11013-grenzen-der-sparpolitik werden, auch wenn das großes Leid und Massenverarmung mit sich bringt. _Politikwissenschaftlich_ betrachtet sind einseitige Schuldzuweisungen stets suspekt. In Hinblick auf das "„Hineinregieren“ in andere Länder":http://www.theeuropean.de/christopher-meyer/11645-euro-rettung-und-verlust-der-nationalen-souveraenitaet stellen sich grundlegende demokratiepolitische Fragen. Wichtig wäre, dass im "Sonderfall Griechenland":http://www.theeuropean.de/chase-gummer/11533-reform-der-europaeischen-union die Strukturreformen über den Fiskalbereich hinaus auch das Parteiensystem und den Kampf gegen die Korruption beinhalten. _Rechtlich_ fällt zur Variante A.1.) auf, dass die Währungsunion keine Ausstiegsbestimmungen enthält. Wieder einmal müsste – wie so oft in jüngster Zeit – über Notfallklauseln und völkerrechtliche Umwege agiert werden. Keine Zier im Sinn der Legitimität von Entscheidungen … _Ökonomisch_ gesehen spricht einiges gegen die Annahme, allein die Problemstaaten hätten die Krise zu verantworten. Die Daten zeigen, dass nach 2008 praktisch alle EU-Länder (inklusive Deutschland) steigende staatliche Defizite hatten, nicht nur die „üblichen Verdächtigen“. Vor allem jedoch hatten davor heutige Problemländer ihr günstiges Wirtschaftswachstum nachweislich zum Drücken ihrer Gesamtverschuldung unter die Maastricht-Grenze genutzt. Spaniens öffentlicher Schuldenstand betrug 2007 (anteilig am BIP) fast die Hälfte jenes von Deutschland. Zumindest teilweise müssen also fraglos guter Wille und pflichtbewusstes Handeln attestiert werden. Vor diesem Hintergrund scheint es richtig, (auch) nach gesamt-strukturellen Gründen für die Probleme der vergangenen Jahre zu suchen. Dies tun die Vertreter der zweiten Krisendiagnose.

Forderungen nach Solidarität nicht von der Hand zu weisen
_Version B: Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion leidet an einem Geburts- und Denkfehler, den alle EU-Regierungen gemeinsam zu verantworten haben._ Divergent sind wiederum die Empfehlungen. B.1.) Die einen sagen: Mehr Solidarität mit den Krisenländern, den Euro aufrechterhalten und durch eine Form von Lastenteilung stützen. Euro-Bonds bzw. Schuldenunion sind übrigens nur die Extremformen, bestehende Interventionen der EZB und die Rettungsfonds sind Schritte auf dem Weg dorthin. B.2.) Die anderen warnen: Mehr Geld ausgeben wird das grundlegende Dilemma nicht ändern, sondern die Gesamtsituation letztlich nur verschlimmern. Daher müsse über Alternativen nachgedacht werden (in Richtung eines neuen europäischen Währungssystems mit dem Euro als Referenzwährung), damit die Wirtschaftspolitik unentbehrliche Instrumente wie Geldmengen-, Zins- und Wechselkurspolitik zurückgewinne. _Ökonomisch_ betrachtet sind Forderungen nach Solidarität bzw. Lastenteilung nicht von der Hand zu weisen, haben doch die Exportländer wie Deutschland bislang überproportional an der EU verdient. Daher scheinen solche Schritte auch _politisch_ nicht illegitim und könnten wohl letztlich von den Bürgern akzeptiert werden. Mindestens, so weit sie in einer sinnvollen Gesamtproportion stehen und so lange der Aufwand entsprechende Effekte zeigt. Genau das scheint jedoch keineswegs sicher. 172 Ökonomen warnen im Hinblick auf eine Bankenunion, die Gesamtlasten wären eventuell letztlich ökonomisch gar nicht tragbar und die damit verbundene Umverteilung von den Rentnern und Lohnsteuerzahlenden sowie von Konsumenten hin zu den Finanzkapitaleigentümern ohnehin inakzeptabel. Andererseits ist zu fragen, wie sich überhaupt der Befund des Geburtsfehlers mit pragmatischer Krisenlösung vertragen soll – darüber wird meist unbekümmert hinweggegangen.
„Rettet Europa vor dem Euro“
Im wohl bedenklichsten Befund zum Thema hat kürzlich Fritz W. Scharpf in der „Berliner Republik“ diese Möglichkeit mit klaren Argumenten entkräftet: Wenn die Verantwortung für die Krise gerade bei der _Einheitswährung_ für _uneinheitliche_ Ökonomien liege, gepaart mit ungezügelter Kapitalverkehrsfreiheit, dann könnten die jetzt angestrebten Rettungsversuche nur „verheerende Folgen“ haben. Ein perfekter „Teufelskreis“ sei entstanden, der auf der einen Seite die Defizite und auf der anderen die Überschüsse der Leistungsbilanzen erzeuge, was durch die (ökonomisch unpassende) einheitliche Geldpolitik wiederum verstärkt werde. Dies könne von der Staatskreditkrise zur Spaltung Europas führen, und „wirtschaftliche Erosion“ sowie „Misstrauen, Verachtung und Feindschaft“ zwischen den Völkern schüren. Daher warnt der sonst keineswegs alarmistische Direktor a.D. des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung: „Rettet Europa vor dem Euro.“ Angesichts dieses Zustands des öffentlichen Diskurses ist dringend einzufordern, dass die gegensätzlichen Diagnosen nicht länger ignoriert werden. Die Wirtschaftswissenschaft hat hier eine immense Bringschuld, nämlich nachvollziehbare und ausargumentierte (!) wirtschaftspolitische Beratung für die Gesellschaft, die sie finanziert. Es reicht keineswegs, wenn sich Professoren über Zeitungen Postulate an den Kopf werfen. Ebenso wenig geht an, wenn sich Politiker zeitsparend von wenigen Spitzen-Bankern beraten lassen und so gewonnene Überzeugungen fintenreich durchzusetzen versuchen. Die Krise schreit nach einem intensiven Diskurs mit systematisch moderierten und aufeinander bezogenen Experten- und Stakeholder-„Enqueten“ auf medialer wie parlamentarischer Ebene. Explizite und eingehende Auseinandersetzung mit den diversen unvereinbaren (!) Problemverständnissen ist unabdingbar. Die Zeit, die Karlsruhe sich und der Politik gegeben hat, muss in diesem Sinne genützt werden, wenn Krisenintervention "Aussicht auf Erfolg":http://www.theeuropean.de/katja-kipping/11575-ein-new-deal-fuer-schuldenstaaten haben soll.
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