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> Untergang des Abendlandes?

Abendland oder Europäische Union

Europa hat sich zwar seit jeher durch fruchtbare und nicht immer konfliktfreie Binnenbewegungen gekennzeichnet, ist aber seit mehr als einem Jahrtausend kein Einwanderungskontinent gewesen.

The European

1. Einleitung
Sehr geehrte Damen und Herren, auch im Namen des polnischen „Instytut Zachodni“, für das ich die Ehre habe, seit einem Jahr als Forschungsprofessor zu arbeiten, möchte ich mich bei Ihnen herzlich für Ihre Einladung nach Berlin bedanken. Es ist mir eine Ehre und auch eine Verpflichtung, vor Ihnen als den gewählten Vertretern von 12,6% der deutschen Bürger und somit der drittstärksten Gruppe im Bundestag meine Sicht auf die gegenwärtige Lage Europas vorstellen zu dürfen. Ich weiß, daß es mittlerweile für Redner vor der AfD-Fraktion zu einer Art Brauch geworden ist, in der einen oder anderen Weise zu begründen, daß man der Einladung irgendwie „trotzdem“ Folge geleistet hat. Doch bereits dieser im Rahmen eines demokratischen Systems doch eigentlich unnötige Begründungszwang zeigt, wie tief mittlerweile die Bruchlinien sind, die unsere Gesellschaft zunehmend zerreißen, und das nicht nur in Deutschland: Anstatt eine grundlegende Achtung vor allen politischen Gegnern zu pflegen und gerade mit Andersdenkenden das Gespräch zu suchen, um zwar nicht immer eine gemeinsame Lösung zu finden, aber doch immerhin ein inneres Verständnis der Sichtweise des Anderen zu erlangen, geht es heute nur noch um das, was gemeinhin als „Haltung“ bezeichnet wird, und hinter der letztlich nicht Mut, sondern vielmehr unterschwellige Angst steht: Selbst wer es wagt, vor einer politisch unkorrekten Zuhörerschaft nur seiner eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen, wird bereits dafür verurteilt, durch seine Gesprächsbereitschaft den Anderen in seinem Dasein wahrzunehmen und ihm somit eine Existenzberechtigung zuzugestehen. Eine solche „Haltung“ aber ist nicht nur das Ende der Demokratie, sondern gleichzeitig auch ein zutiefst menschenfeindliches und letztlich selbstzerstörerisches Verhalten, das früher oder später nur in den Abgrund führen kann, denn wer die grundlegendsten Regeln des zwischenmenschlichen Verkehrs mißachtet, kann sich danach schlecht zum Verteidiger von Pluralismus und Humanismus aufspielen. Vor mehr als einem Jahr schrieb ich in der „Tagespost“ vom 27.3.2018 folgendes: „Nur wer sein Recht auf freie Meinungsäußerung und die Bereitschaft zur Debatte selbst mit dem politischen Erzfeind mit Zähnen und Klauen verteidigt und sich gleichermaßen von den Einschüchterungen der Denunzianten wie von der Versuchung des Opportunismus befreit, wird eines Tages Vorbildwirkung für die kommenden Generationen entwickeln können, welchen der Wiederaufbau des rapide verfallenden Westens anvertraut werden wird.“ (Engels, Verhärtete Fronten) Daran möchte ich mich auch heute halten, nachdem ich schon in anderem Kontext vor der SPD und der CDU vorgetragen habe, und durch die Befolgung Ihrer freundlichen Einladung meinem damaligen Aufruf auch selber treu bleiben – egal, welche äußeren Konsequenzen sich daraus ergeben könnten. Damit sind wir aber keineswegs in eine Abschweifung geraten, sondern vielmehr bereits mitten im Thema meines heutigen Vortrags: „Abendland oder Europäische Union“.
2. Europa in der Krise
Das Thema ist fraglos ein weites Feld; wir müssen es daher auf das dringend Notwendige beschränken: Die Überlebensaussichten unserer abendländischen Zivilisation im 21. Jh., und auf welchem Wege wir alle dazu beitragen können, diese möglichst zu verbessern. Es wird keinen von Ihnen überraschen, der sich ein wenig mit meinem Buch „Auf dem Weg ins Imperium“ auseinandergesetzt hat, in dem ich versucht habe, die Krise der Gegenwart mit dem Niedergang und Zusammenbruch der römischen Republik im 1. Jh. v.Chr. zu vergleichen, wenn ich sage, daß es schlecht, sehr schlecht um unsere Gesellschaft bestellt ist, denn die Liste der Probleme ist lang, wenn auch selten jemand es wagt, sie in ihrer Gesamtheit anzuführen, nimmt man die sogenannten „populistischen Parteien“ aus, die freilich trotz der Einsicht in die Schwere der Lage nur selten mit Antworten aufzuwarten haben, welche der dieser Situation auch völlig angemessen sind: Gesellschaftliche Polarisierung, Masseneinwanderung, Bildungsnotstand, Fundamentalismus, verfallende Infrastrukturen, Terrorismus, demographischer Niedergang, Desindustrialisierung, Zerfall der klassischen Familie, Hedonismus, Überalterung, Rechtsrelativismus, explodierende Staatsschulden, Islamisierung, Elitendemokratie, Kasinokapitalismus, asymmetrische Kriege, absehbarer Bankrott der Rentenkassen, Zunahme krimineller Gewalt, bürokratische Überregulierung, Bedrohung der Sicherheit der Frau, ausufernde Sozialbudgets, Parallelgesellschaften, Instrumentalisierung der historischen Schuld der abendländischen Völker, Bargeldabschaffung mitsamt den sich potentiell daraus ergebenden Negativzinsen, immer größerer wissenschaftlich-technologischer Rückstand, zunehmender Aufbau eines flächendeckenden digitalen Überwachungssystems – und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Und als ob Europa nicht schon genug Probleme hätte, spitzt sich auch die Weltlage dramatisch zu: Die USA, die sich schon unter Obama von Europa abwandten, befinden sich in einer tiefen inneren Krise, welche auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hin das gesamte politische Klima vergiften wird; Rußland ist nach dem Ende der Sowjetunion nicht an den Westen herangeführt, sondern systematisch zurückgestoßen worden, so daß nunmehr ein größtenteils selbstverschuldeter Riß erneut den Kontinent durchzieht und angesichts der demographischen Entwicklung und der inhärenten Instabilität der russischen Autokratie sicherlich in den nächsten Jahren einen weiteren Krisenfaktor darstellen wird; in Afrika haben Massenarmut, verbunden mit einer demographischen Explosion sondergleichen, für eine Wanderungsbereitschaft gesorgt, welche eines Tages den europäischen Kontinent überspülen könnte; im Nahen Osten ist es zu einer Renaissance des lange totgeglaubten fundamentalistischen Islams gekommen, welcher tief durchdrungen ist vom Ressentiment gegen die einstigen Kolonialmächten und vom Haß auf den westlichen Materialismus; und im Fernen Osten wächst im Milliardenreich China drohend eine Weltmacht heran, welche schon jetzt alle Mittel in Bewegung setzt, Afrika, Zentralasien und schließlich auch Europa ganz unter seine wirtschaftliche und somit indirekt auch politische Hegemonie zu bringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese inneren wie äußeren Probleme betreffen nicht nur einzelne europäische Staaten wie etwa Finnland, Portugal oder Luxemburg – sie betreffen uns alle samt und sonders und müssen daher auch eine gemeinsame Antwort erzwingen, wenn wir nicht in den nächsten Jahrzehnten im besten Fall in eine Mischung zwischen Altersheim und Freilichtmuseum verwandelt werden wollen, und im schlimmsten Fall in eine Art späthellenistisches Griechenland, wo die benachbarten Hegemonialmächte ihre blutigen Konflikte austragen. Mir ist natürlich völlig bewußt, daß einige von Ihnen – nicht immer zu Unrecht – die europäischen Institutionen bzw. den Geist, der sie bewegt, für einen nicht unbeträchtlichen Teil dieser Krisen verantwortlich macht, denn wenn die meisten der obigen Punkte auch aus einer welthistorischen Perspektive fraglos zum Problembestand einer jeden alternden, spätzeitlichen Zivilisation gehören und die europäischen Einrichtungen hier nur zum bloßen äußeren Agenten einer viel tieferen historischen Dynamik geworden sind, muß es doch als Tatsache gelten, daß jene Institutionen nur wenig dazu beigetragen haben, die Krisen mutig in Angriff zu nehmen, sondern sie durch beständiges Verschieben bzw. sogar durch unterschwellige Mitwirkung erst zu ihrer gegenwärtigen Größe haben anschwellen lassen. Aber all dies ändert eben nichts an der Tatsache, daß wir den Faden der Geschichte da aufnehmen müssen, wo er sich gerade befindet: Die europäischen Nationalstaaten sind mittlerweile politisch wie wirtschaftlich zum Guten wie zum Bösen so eng miteinander verflochten, leiden allesamt unter genau denselben inneren Problemen und sind inzwischen auf der Weltbühne seit dem Verlust der wissenschaftlich-technologischen Überlegenheit des Abendlands so hilflos gegenüber den Gefahren von Ost, West und Süd geworden, daß eine Auflösung der europäischen Zusammenarbeit geradezu eine Versündigung an der historischen Zukunft des Abendlands wäre. Sogar Deutschland, als bedeutendster europäischer Staat, hätte von einer solchen Entwicklung kaum zu profitieren, denn selbst die bei einigen Politikern uneingestandene Hoffnung, durch eine Auflösung der EU erneut die Zeit deutscher Weltmachtstellung wiederkehren zu lassen, ist in ihrer Naivität geradezu gemeingefährlich, denn die Parameter sind heute, im Vergleich zum 19. Jh., gänzlich andere: Wo Zentraleuropa damals von nur drei Mächten, nämlich dem deutschen, dem österreich-ungarischen und dem russischen Reich beherrscht wurde, die allesamt einen gewaltigen technischen Fortschritt gegenüber den außereuropäischen Staaten und eine explosiv wachsende Demographie und Wirtschaft besaßen, ist Deutschland heute ein alterndes, infrastrukturell und wissenschaftlich rückständiges, kulturell wie politisch zerrissenes und in seiner Identität zutiefst traumatisiertes Land, welches die Aussicht auf eine bescheidene innenpolitische Gestaltungsfreiheit und außenpolitische Einflußnahme auf seine mittlerweile zahlreichen mittleren und kleinen Nachbarstaaten teuer erkaufen müßte: Tanzte Deutschland nicht nach der Pfeife der Weltmärkte und jener Staaten, die ihm jetzt schon bevölkerungsmäßig fast 20fach überlegen sind, wäre es mit der Gestaltungsfreiheit schnell zu Ende. Und diejenigen unter seinen Nachbarn, die nun ihrerseits ebenfalls an ihrer Autonomie festhalten wollen, anstatt unter deutsche Fittiche zu geraten, würden rasch unter die russische, chinesische, amerikanische und vielleicht sogar türkische oder saudi-arabische Hegemonie flüchten und die Gefahr einer aggressiven Überschwemmung mit deutschen Industrieprodukten durch eine defensive Billiglohn- und Zollpolitik bekämpfen. Am Ende stünde somit letztlich nur, wenn auch auf anderem Wege erreicht, der Traum globalistischer Eliten: Die Völker und Nationen in einen zerstörerischen Wettbewerb zu treiben, wer von ihnen am vorteilhaftesten extreme Billiglöhne mit größtmöglichem Massenkonsum von überteuertem Ramsch kombiniert. Die Hoffnung auf eine Rückkehr zum angeblich guten alten Nationalstaat ist meinetwegen Romantik, aber doch solche schlechtester Art; eine Naivität, auf die wir hier nur mit einem Zitat Oswald Spenglers antworten können, der in seiner kalten Illusionslosigkeit schrieb: „Wir haben diese Zeit nicht gewählt. Wir können es nicht ändern, daß wir als Menschen des beginnenden Winters der vollen Zivilisation und nicht auf der Sonnenhöhe einer reifen Kultur zur Zeit des Phidias oder Mozart geboren sind. Es hängt alles davon ab, daß man sich diese Lage, dies Schicksal klar macht und begreift, daß man sich darüber belügen, aber nicht hinwegsetzen kann. Wer sich dies nicht eingesteht, zählt unter den Menschen seiner Generation nicht mit. Er bleibt ein Narr, ein Charlatan oder ein Pedant.“ (Spengler, Untergang des Abendlandes) Denn das Resultat einer solchen Rückkehr zum Nationalstaat unter den Voraussetzungen des 21. Jh.s wäre die Umwandlung Europas in ein politisches Schachbrett der großen Mächte, wobei die erneute Konkurrenz zwischen 28 europäischen Nationen (denn den Vollzug des Brexits habe ich erwiesenermaßen nie erwartet) eben nicht zum Ausgangspunkt eines neuen Aufschwungs würde, sondern von den neuen hegemonialen Kräften im Westen wie im Osten in eine rücksichtslose Abwärtsspirale gedrängt würde, an deren Ende Europa nur noch zu einem politisch zerrissenen, zunehmend islamisierten, höchstens für asiatische Touristen auf Nostalgiefahrt attraktiven Billiglohngebiet degenerieren würde, eine Art Disney-Land mit moralischem Größenwahn, hinter dessen Fassaden sich die Abgründe von Baghdads oder Lagos auftun würden.
3. Abendland oder Europäische Union?
Nun werden Sie zweifellos sagen: „Ein politisch zerrissenes, zunehmend islamisiertes, höchstens für asiatische Touristen attraktives Billiglohngebiet – aber das ist Europa doch auch jetzt fast schon!“ Und Sie hätten damit leider durchaus Recht. Aber noch – ich betone: noch – besteht eine, wenn auch kleine, Möglichkeit, weiterhin unsere eigene Zukunft selbst zu gestalten, denn sollten die europäischen Institutionen, die ihre Existenz der einzigartigen historischen Situation des Windschattens des Kalten Kriegs und des amerikanischen Protektorats verdankten, einmal abgeschafft sein, wird an eine neue Einigung im Laufe der nächsten Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte nicht mehr zu denken sein, da dies kaum im Interesse unserer Nachbarn wäre. Nun würden Sie sich allerdings irren, meine bisherigen Ausführungen als eine Art Plädoyer für die Europäische Union zu verstehen. Ganz im Gegenteil ist es mir wichtig, hier scharf zu trennen zwischen dem Ideal einer engen institutionellen Zusammenarbeit der Staaten abendländischer Kultur in Kernbereichen, die ihre historische Zukunft betreffen, und der Realität der Europäischen Union, wie sie sich heute zeigt: Im Widerspruch zu dem regelmäßig verbreiteten Amalgam zwischen Europa und der EU ist zwischen dem Ideal und seiner vorläufigen Gestaltung streng zu trennen, und wenn auch in den Medien gemeinhin die Unterstützer der EU meist als „pro-Europäer“ bezeichnet und den sogenannten Populisten „anti-europäische“ Absichten unterstellt werden, wo es doch meist nur um eine oft nicht unberechtigte Kritik der EU geht, ließe sich sogar der polemische Satz formulieren, daß ein Befürworter der gegenwärtigen EU im strengen Sinne eigentlich kein pro-Europäer sein kann und umgekehrt. Um diesen Satz ganz zu verstehen, müssen wir uns kurz um das leidige Problem der „europäischen Identität“ kümmern. Um es schon von Anfang an vorwegzunehmen: Ja, es gibt eine „europäische Identität“, aber es ist eben nicht diejenige, die gerade von oben herab mit Hochglanzbroschüren und hochdotierten NGOs „konstruiert“ wird, sondern vielmehr diejenige, die spätestens seit den Karolingern die gesamte Geschichte des Abendlands geprägt hat. Streng genommen ist daher bereits die bloße Frage nach der Existenz bzw. notwendigen Konstruktion der europäischen Identität, die selbst zu Zeiten der verfeindeten Nationalstaaten nie ein Europäer gestellt hätte, ein zivilisatorisches Verfallsmerkmal ersten Grades und zudem wohl auch ein Armutszeugnis für unsere Schul- und Allgemeinbildung, bemerkte doch vor hundert Jahren bereits der große spanische Philosoph Ortega y Gasset: „Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes – Theorien und Normen, Wünsche und Vermutungen –, so würde sich herausstellen, daß das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen. Wenn wir uns versuchsweise vorstellen, wir sollten lediglich mit dem leben, was wir als ‚National‘ sind, wenn wir etwa den durchschnittlichen Deutschen aller Sitten, Gedanken, Gefühle zu entkleiden probieren, die er von anderen Europäern des Kontinents übernommen hat, werden wir bestürzt sein, wie unmöglich eine solche Existenz ist; vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“ (Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen) Und in der Tat: Ein noch so oberflächlicher Blick in ein beliebiges Museum europäischer Kunst oder Geschichte, sei es nun in Portugal, Deutschland oder Polen, sollte eigentlich genügen, selbst dem historisch Unbedarftesten zu zeigen, daß das Abendland eine kulturelle Schicksalsgemeinschaft sondergleichen ist: Von der Romanik über Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus, Romantik und Historismus bis zum Modernismus; vom mittelalterlichen Katholizismus über die Reformation, die Wiederentdeckung der Antike, die Aufklärung und den Liberalismus bis zur gegenwärtigen „politischen Korrektheit“; von der Monarchie über den Feudalismus, die frühneuzeitlichen Territorialstaaten, den Absolutismus, die bürgerliche Demokratie und den Totalitarismus bis hin zur gegenwärtigen internationalen und globalistischen Ordnung – all dies betrifft nicht nur einen einzigen europäischen Nationalstaat, sondern verbindet uns alle von Lissabon bis Vladivostok und von Palermo bis nach Tromsø, und trennt uns gleichzeitig auch in schärfster Weise von den anderen großen Kulturräumen der Weltgeschichte wie etwa dem islamischen, indischen oder chinesischen. Und wenn, wie ich eben sagte, ein Europäer selbst des 19. Jh.s nie den geringsten Zweifel an der kulturellen Zusammengehörigkeit seines Kontinents gehabt hätte, wäre es ihm auch niemals eingefallen, überhaupt zu erwägen, ein Staat wie etwa die Türkei könne zu dieser Gemeinschaft hinzugezählt werden. Denn gerade, weil alle großen menschlichen Kulturen ihr jeweiliges eigenes, unverwechselbares Welt- und Menschenbild entwickelt und somit die Menschheit um eine weitere Facette bereichert haben, können sie nicht ohne weiteres mit dem abendländischen Welt- und Menschenbild in Einklang gebracht werden, da sie ebenso wie die abendländische auf unübersetzbaren sprachlichen, geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen beruhen. Zu glauben, die scheinbar „universalen“ Werte linksliberaler westlicher Ideologie, wie sie sich in den letzten paar Jahren herausgebildet haben und nur auf dem Grunde der gegenwärtigen geistigen Verfassung des Abendlandes überhaupt verständlich sind, könnten ohne weiteres allen anderen menschlichen Gesellschaften gleichsam übergestülpt oder untergeschoben werden, wofür dann allerdings die abendländische Zivilisation im Austausch großzügig auf die weitere Pflege ihres historischen Erbes zu verzichten habe, zeugt nicht nur von einer bodenlosen Naivität und Unbildung, sondern gleichzeitig auch von einem schon fast bestürzenden Eurozentrismus. Hier liegt daher auch die scharfe Grenzlinie zwischen der jahrhundertealten abendländischen Identität und dem Kunstprodukt der im Vertrag von Lissabon beschworenen Auflistung verschiedenster „Werte“, hinter denen sich, trotz unbestreitbarer guter Absicht, nur jene Leere verbirgt, die sich hinter allen großen Begriffen auftut, wenn diese nicht mit einem Inhalt gefüllt werden, dessen Grundlagen völlig außerhalb jener scheinbaren „Werte“ zu suchen ist. Anders ausgedrückt: Als Resultat einer langen organischen Entwicklung hat sich im Abendland eine Reihe von Wertbegriffen herausgebildet, welche sich zunehmend von ihrem eigentlichen traditionellen, weitgehend christlich geprägten Substrat entfernt haben und nunmehr im Interesse der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Elite beliebig und relativistisch umgedeutet werden, in dieser Interpretation dann aber nicht nur von den Europäern als Quintessenz ihrer Identität akzeptiert, sondern gleichzeitig auch vom Rest der Welt als scheinbare „Menschenrechte“ kritiklos umgesetzt werden sollen. Sagten nicht bereits Horkheimer und Adorno: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung) Nehmen wir unter dieser Voraussetzung die Begrifflichkeit des Vertrags von Lissabon zur Hand, ließe sich bewußt polemisch übersteigert sagen, daß aus der „Achtung der Menschenwürde“ durchaus die Generalvollmacht zur Abtreibung bis zum Tag der Geburt abgeleitet werden kann; aus der „Freiheit“ die Amnestie für die verantwortungslose Verlagerung von Kapital in Billiglohnländer und somit die langfristige Bedrohung der heimischen Arbeitsbedingungen; aus der „Demokratie“ ein bürokratisches Monster wie die EU, die kaum die Kriterien erfüllen würde, selbst ihr eigenes Mitglied zu werden; aus der „Gleichheit“ ein duales System, in dem die Probleme nicht bei den „Eliten“, sondern den „Bevölkerungen“ gesucht werden; aus der „Rechtsstaatlichkeit“ ein relativistischer Rechtspositivismus, der kaum noch etwas mit dem natürlichen Rechtsempfinden der Mehrheit der Bürger zu tun hat; aus der „Nichtdiskriminierung“ die medial breit unterstützte Hetzjagd auf die berüchtigten „alten weißen Männer“ und die Idealisierung der Verschleierung als Sieg des Feminismus; aus der Toleranz der Freifahrtschein für die Entstehung von Parallelgesellschaften; aus der „Solidarität“ der Rettungsschirm für die Großbanken und den Fluß deutscher Steuergelder in die Kassen der Gläubiger verschuldeter Nachbarstaaten; und die Liste ließe sich fortsetzen. Wie gesagt: Meine Darstellung ist polemisch überspitzt, gibt aber doch gut wieder, inwieweit sich Werte, wo sie nicht mehr an unausgesprochene Gesetze von Anstand, Glauben und Herkommen gebunden sind, selbst bei bester Absicht beliebig umdeuten lassen und ein der Form nach freiheitliches Gemeinwesen ohne wirkliche Änderung des Buchstabens des Gesetzes in ihr Gegenteil verkehren kann – eine leidvolle Erfahrung aus den verschiedensten Unrechtsregimen des 20. Jh.s, die heute aktueller denn je scheint.
4. Der Neubau Europas
Wir haben versucht zu zeigen, daß Europa in einer schweren Gefahr ist, und zwar in seiner Gesamtheit; und wir haben versucht zu erklären, daß eine gemeinsame abendländische Identität, die uns alle vereint, tatsächlich besteht, aber nur oberflächlich etwas mit den angeblichen „europäischen Werten“ politisch korrekten Denkens zu tun hat. Wie aber hat man sich nun jene innere Erneuerung vorzustellen, die einzig noch dazu beitragen könnte, die Abwehrkräfte Europas in seiner größten Not zu stärken? Eine solche, echte Erneuerung Europas läßt sich nur dadurch vollziehen, daß nicht nur die politischen Institutionen, sondern auch der dahinterstehende Geist neu durchdacht werden – wobei das erstere zwar bereits unglaubliche Schwierigkeiten bereitet, trotzdem aber immer noch einfacherer ist als eine wirkliche innere Umkehr. Wie man mit dieser Tragik als Einzelner fertig werden mag, habe ich in meinem Buch „Que faire“ beschrieben, das in den nächsten Wochen in französischer Sprache und, wie ich hoffe, bald auch in deutscher erscheinen wird; heute soll es uns daher nur um die Gesellschaft gehen. Gestern Abend hatte ich in dieser Beziehung die Ehre, im Polnischen Institut Berlin einen soeben frisch von mir herausgegebenen Band mit dem Titel „Renovatio Europae“ vorzustellen, in dem ich zusammen mit Chantal Delsol, Alvino-Mario Fantini, Birgit Kelle, Zdzislaw Krasnodebski, András Lánczi, Max Otte, Jonathan Price und Justyna Schulz versucht habe zu skizzieren, wie eine solche institutionelle Reform Europas verwirklicht werden könnte. Die Antwort ist einfach: Ohne eine systematische Erneuerung jener Grundideen und Grundwerte, auf denen nicht nur unsere jahrhundertealten politischen Institutionen beruhen, sondern auch unsere gesamte Gesellschaft, ist Europa zum raschen Niedergang verdammt. Ich habe für jenen Versuch einer solchen Reform der europäischen Institutionen in Anlehnung an die griechische Bezeichnung für den äußersten Westen der bekannten Welt den Begriff des „Hesperialismus“ geprägt, der den Anspruch einer konservativen Rückbesinnung auf unsere historischen Werte mit dem Versuch eines konstruktiven Neubaus Europas zu verbinden sucht, und will Ihnen im folgenden die Grundzüge jener Idee kurz zusammenfassen: Europa: Die gegenwärtige Europäische Union erinnert an Goethes Zauberlehrling: Ein überaus sinnvolles Werkzeug, das ungewollt ein Eigenleben entwickelt hat und ihrem ursprünglichen Zweck mehr schadet als nutzt. Hier gilt es in Zukunft, zum einen den institutionellen Wildwuchs zu beschneiden und die EU auf ihre wirklich wesentlichen Kernaufgaben zu begrenzen, zum anderen, weiteren Schaden dadurch zu verhindern, daß ihre eigentlichen Ziele fest und definitiv in einer auch transzendental begründeten Verfassung umschrieben werden. Konkret würde eine solche Reform auf eine radikale Durchsetzung der Subsidiarität hinauslaufen und in einigen Bereichen eine Stärkung, in den meisten aber eine Schwächung der europäischen Institutionen erfordern. So müßten EU-Parlament und Europäischer Rat zu den beiden Kammern eines neuen, einzig mit der Gesetzgebung beschäftigten Organs werden, wobei das erstere die alleinige Ernennung und Aufsichtspflicht über eine begrenzte Zahl von Sekretären auszuüben hätte, die an die Stelle einer aufzulösenden Kommission treten würden und in ihrer Tätigkeit ausschließlich auf jene Felder reduziert wären, welche den äußeren Schutz und den inneren Frieden des Kontinents betreffen, also die äußere Verteidigung, den Grenzschutz, Forschungskooperation, Infrastruktur, rechtliche Harmonisierung, strategische Ressourcen und die hierzu nötigen Finanzangelegenheiten. Nur die gemeinsame Außenpolitik und der Vorsitz eines ständigen Schlichtungsausschusses könnten einem von allen Europäern gewählten Präsidenten übertragen werden. Wirtschaft: Was nun die Wirtschaftspolitik betrifft, so sind wir auch hier weit abgekommen von dem traditionellen Verständnis einer Ordnung, die in erster Linie der Gesamtgesellschaft und nicht ausschließlich einigen wenigen zugute kommen soll, hat doch der weder durch Gesetz, noch durch Glauben, Herkommen oder Anstand beschränkte Liberalismus des 19. Jh.s zunächst zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung geführt, welche dann, nach der kurzen und künstlichen Unterbrechung der Zeit des Kalten Kriegs, als es galt, die Arbeiterschaft dem Kapitalismus nicht abspenstig zu machen, ins Grenzenlose stieg, als mit der Globalisierung auch noch die letzten nationalstaatlichen Hindernisse wegfielen. Hier heißt es, neue Schranken zu ziehen. Zum einen muß es die oberste Priorität sein, den wirtschaftlichen Großraum Europa zu schützen und so autonom und krisenfest wie möglich zu ordnen, und dann, die gegenwärtige Dynamik der besitzmäßigen Umverteilung und v.a. des Verschwindens des Mittelstands durch entsprechende Abschöpfungen und Anreize zu bremsen. Auch wird es langfristig unmöglich sein, in Europa zum einen unterschiedliche Steuerbelastungen, zum anderen aber eine nahezu uneingeschränkte zwischenstaatliche finanzielle Solidarität einzufordern. Rechtssystem: Unser gegenwärtiges Rechtssystem, spiegelbildlich zu unserer gesamten Gesellschaft, ist zunehmend relativistisch und rechtspositivistisch ausgerichtet und hat bei gleichzeitigem Personalmangel und steigender Komplexität bei den Bürgern allmählich zu einer tiefen Rechtsunsicherheit geführt: Unzumutbare Verfahrensdauern, flagrante Disproportionalität bei der Ahndung zwischen leichten und schweren Vergehen, rasche Freilassungen aufgrund der Überlastung der Gefängnisse – all dies hat das Vertrauen in das Recht erschüttert und bei gewissen Bevölkerungsgruppen eine regelrechte Verwahrlosung befördert, welche sich in der erschreckenden Zunahme körperlicher Delikte niederschlägt. Nur eine Rückkehr zu einer naturrechtlichen, überpositiven Fundierung unseres Rechtssystems mitsamt einer deutlichen Verkürzung und Verschärfung gängiger Praktiken mag der Verwilderung noch Einhalt gebieten. Einwanderung: Europa hat sich zwar seit jeher durch fruchtbare und nicht immer konfliktfreie Binnenbewegungen gekennzeichnet, ist aber seit mehr als einem Jahrtausend kein Einwanderungskontinent gewesen und zudem in seiner Stabilität seit jeher durch die Kohärenz geprägt, welche sich bei aller inneren Diversität doch durch nahverwandte Sprachfamilien, gemeinsamen Glauben und geteilte Weltsicht ergeben und auf jedem Gebiet eine beachtliche Dynamik geschaffen hat, von der die gesamte Welt bis heute nicht nur im Bösen, sondern auch und vielleicht sogar vor allem im Gutem zehrt. Dieses eng verflochtene Miteinander nunmehr innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte künstlich aufbrechen und die eigene Kultur gewissermaßen über Nacht angesichts der Ansiedlung von Menschen gänzlich fremder Kulturen als „eine von vielen“ betrachtet wissen zu wollen, welche sich den Kontinent von nun an zu teilen hätten, ist ein Experiment, das früher oder später nur zu massiven Konflikten führen kann. Nur eine mutige Festlegung der eigenen, unverwechselbaren abendländischen Lebensart als Leitbild, in das sich andere Menschen letztlich doch zu integrieren haben (was keinesfalls punktuelle fruchtbare Kulturimporte auszuschließen hat), kann die Fragmentierung unserer abendländischen Welt in ein Neben- oder Gegeneinander unverbundener, geschickt gegenseitig ausgespielter Parallelgesellschaften verhindern. Und nur eine verantwortungsvolle Begrenzung der Zahlen im Rahmen eines neuen „ordo caritatis“ und somit eine klare Präferenz für jene, die uns zudem durch gemeinsame kulturelle Identität am nächsten stehen, kann verhindern, daß sich einst das bereits im Neuen Testament ausgesprochene Verdikt erfüllt, wo es heißt: „Wenn aber jemand für seine Angehörigen, besonders für die eigenen Hausgenossen, nicht sorgt, der verleugnet damit den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger.“ (1 Tim 5.8, EU) Familie: Europa blutet demographisch aus und verliert zunehmend jene stabile zwischenmenschliche und intergenerationelle Kohärenz, die nur durch das Vorbild gesunder und in Kontinuität, nicht Bruch zu unserer Vergangenheit stehender Familienstrukturen gesichert werden kann: Daher gilt es, erneut die traditionelle Familie, wie sie seit Jahrhunderten die abendländische Gesellschaft bestimmt hat, zu stärken. Dies bedeutet zum einen, daß mit der Wahnvorstellung, Mann und Frau seien beliebig in allen Sphären ihres Wirkens austauschbar, aufgeräumt werden muß: Ja, Mann und Frau sind radikal gleichwertig, was übrigens im geistlichen Bereich nie bestritten wurde und im politischen schon seit hundert Jahren zu einer Selbstverständlichkeit gehört, aber ihre natürlichen Anlagen machen sie zu komplementären, nicht identischen Wesen. Nur, wenn unsere Gesellschaft dies anerkennt und eben nicht nur die Wege dazu freimacht, beide Eltern möglichst vollständig zu Lasten der Kinder in das Berufsleben zu integrieren, sondern auch dazu, daß einzelne Elternteile – und hier denke ich naturgemäß vor allem an die Mutter – sich ganz um die Erziehung ihrer Kinder kümmern können, ohne dafür auf die eine oder andere Weise abgestraft zu werden, ist auf eine Gesundung unserer Familienstrukturen zu hoffen. Identitätspolitik: Ich sprach eben von der Notwendigkeit einer verfassungsmäßigen Verankerung einer neuen, an den historischen und transzendentalen Werten des Abendlands ausgerichteten Selbstdefinition Europas, um einen weiteren Wildwuchs möglichst zu verhindern, und um die angeblich universalen Menschenrechte durch eine mutige Berufung auf die Berechtigung der eigenen abendländischen Lebensart und Interessen zu ergänzen. Europa braucht keine neue Identität; Europa muß vielmehr den Mut entwickeln, die Chimären universalistischer Menschheitsbeglückung, den Masochismus des Selbsthasses auf die eigene Vergangenheit und die jeder Spätzivilisation eigenen Versuchung des Relativismus und Zynismus abzuschütteln und erneut ein positives Verhältnis zur eigenen Vergangenheit aufzubauen. Dies ist sicherlich einer der schwierigsten Punkte einer solchen Reform, denn die nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa in Gang gesetzte Spirale von Schuld, Buße und moralischem Wohlgefühl bedient nicht nur jene paradoxerweise immer schon gefährliche Tendenz des Eurozentrismus, sondern generiert auch, zumindest für Einzelne, zahlreiche materiell höchst greifbare Vorteile. Auch hier gilt es, eine gesunde Mitte zu finden und die Wertschätzung anderer Kulturen mit der Hochachtung der eigenen verbinden zu lernen. Christentum: Dies impliziert natürlich auch ein positives Verhältnis zum christlichen Erbe, welches wohl eines der Punkte ist, die den liberalen Konservatismus vom traditionalistischen am stärksten trennen. Als Historiker kann ich mich hier nur dem letzteren anschließen und darauf aufmerksam machen, daß das christliche Erbe selbst noch das Denken der Aufklärung und des Rationalismus zutiefst prägt und bedingt, und dies nicht etwa im Sinne einer Wittgenstein’schen Leiter, die es nach dem Aufstieg fortzustoßen gälte, sondern vielmehr eines inneren, oft unbewußten Wertemaßstabs, ohne welchen das Kartenhaus eines rein relativistischen, nicht mehr transzendental letztbegründeten Rationalismus in sich zusammenstürzen muß – das klassische Böckenförde-Diktum, das der von mir oft zitierte Robert Schuman bereits beschrieb, als er formulierte: „Die Demokratie schuldet ihre Existenz dem Christentum; sie ist an dem Tag entstanden, als der Mensch begonnen hat, in der Zeitlichkeit des Diesseits die Würde des Menschen zu verwirklichen, und zwar in individueller Freiheit, im Respekt der Rechte des einzelnen und in Ausübung der brüderlichen Liebe gegen jeden Menschen. […] Die Demokratie wird christlich sein oder wird gar nicht sein. Eine anti­christliche Demokratie kann nur zu einer Karikatur werden, welche in Tyrannis oder Anarchie versinken muß.“ (Robert Schuman, Pour l’Europe) Anders ausgedrückt: Nur solange sie noch unterschwellig vom komplexen Erbe anerzogener christlicher Wert- und Anstandsvorstellungen zehrte, war es der abendländischen Gesellschaft möglich, sich den Sieg materialistischer und atheistischer Vorstellungen als eine positive Utopie vorzustellen, da implizit ein Weiterleben jener unbewußten, historisch gewachsenen Grundregeln angenommen wurde. Sobald die ererbten Strukturen aber ganz versanken, wie dies seit 1968 der Fall ist, wurde auch jene ultraliberale Gesellschaft von keiner Schranke mehr kontrolliert und konnte nunmehr das gesamte, ihr von Anfang an innewohnende nihilistische Potential entfalten. Nun müssen wir freilich realistisch genug sein anzunehmen, daß eine echte, seelische Rechristianisierung Europas ein reines Wunschbild ist; immerhin aber dürfte zu erwarten sein, daß eine kollektive Rückbesinnung auf das Christentum als der eigentlichen, auch in seiner Ablehnung noch geteilten Essenz unseres abendländischen Wesens und somit der Wunsch zu einer positiven Bewertung und pietätsvollen Pflege dieses Erbes die gegenwärtige Tendenz zur Individualisierung und Atomisierung der europäischen Gesellschaft aufhalten oder doch zumindest verlangsamen könnte, wie dies übrigens schon im frühkaiserzeitlichen Rom der Fall war, als Augustus seine Neuordnung des Staates eng mit einer zumindest formalen Restauration des alten Staatskults und des damit eng zusammenhängenden Sittengesetzes verband. Daß es vielen der in den letzten Jahren und Jahrzehnten eingetroffenen fremden Einwanderer durch einen solchen stolzen Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit dem christlichen Erbe tatsächlich einfacher fallen sollte, sich den Traditionen des Abendlandes anzupassen, als dies gegenwärtig der Fall ist, wo wir nur semantische Leerstellen, radikalen Individualismus und kulturellen Selbsthaß als „Leitkultur“ anzubieten haben, dürfte sich von selbst verstehen.
5. Jahre der Entscheidung
Nun wollen wir nicht naiv sein. Es ist schön, uns in einer solchen „hesperialistischen“ politischen Utopie zu ergehen, aber sie ist mit einem so vielfachen „Wenn“ verbunden, daß wir kaum auf ihre Realisierung hoffen dürfen. Denn für eine Rettung Europas ist es eigentlich zu spät, wie wir alle wissen: Zu spät, weil zwar schon seit vielen Jahren alle Zeichen auf Sturm stehen und der Kurs, der uns mit der Wirklichkeit kollidieren lassen wird, schon fest eingeschlagen ist, leider aber das Bewußtsein für die gegenwärtige Gefahr in der Bevölkerung dank einer recht einseitigen Medienlandschaft, einer immensen Verschuldung der kommenden Generationen und einem regelrechten Aussaugen der vorhandenen Substanz noch nicht so weit ausgeprägt ist, wie es der Sachlage eigentlich entsprechen würde. Daß darüber hinaus angesichts der gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse in Institutionen und Parlamenten kaum ein Interesse besteht, die Fehler der Gegenwart einzugestehen und den sprichwörtlichen politischen Hut zu nehmen, bevor die kommenden Katastrophen dieses Eingeständnis unausweichlich machen, ist ebenfalls leider nur menschlich-allzumenschlich, wenn auch in höchstem Grade verantwortungslos. Auch die anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament werden daran nichts ändern: nicht nur, weil angesichts der komplexen, eng verzahnten Machtverhältnisse in Europa die meisten Institutionen sich ohnehin gegenseitig so sehr paralysieren, daß sie machtlos sind angesichts der gewaltigen Bedrohungen von innen und außen, sondern auch, weil eine Zunahme der oppositionellen Kräfte, wie wir sie gegenwärtig überall beobachten, die etablierten Parteien letztlich nur zum Schulterschluß und somit zur Beschleunigung des einmal eingeschlagenen Kurses zwingen wird. Und so treibt das längst nicht mehr steuerungsfähige Europa denn allmählich auf jenen Eisberg zu, dessen Umrisse ich eingangs kurz skizziert habe, und wird wohl eine der tragischsten, da selbstverschuldeten Krisen seiner Geschichte durchstehen müssen, aus der es, wie auch immer der Ausgang der Ereignisse sein wird, mit völlig verändertem Antlitz hervorgehen wird. Wie auch immer die Entwicklung ausgehen wird: Der Westen, wie wir ihn kennen, und wie er einst als spätester Ausläufer der Nachkriegsparadigmen in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist am Ende. Der demographische Austausch Europas, der Zusammenbruch des Finanzsystems, die Ohnmacht der parlamentarischen nationalen Demokratien, der Kollaps der sozialen Sicherheit und nicht zuletzt der allerorten aufgestaute, grenzenlose und blinde Haß auf den jeweiligen Gegner – diese Masse an Sprengstoff ist längst nicht mehr unter den gegebenen politischen Bedingungen abzubauen oder zu entschärfen, und das Beste, was wir noch tun können, ist einerseits, auf eine baldige und kontrollierte Zündung zu hoffen, damit zumindest noch ein letzter Rest der alten Welt übrigbleibt, und andererseits, heute schon die Gesellschaft von morgen – oder eher übermorgen – vorzudenken und vorzubereiten. Daher steht auch zu erwarten, daß meine obigen grundsätzlichen Überlegungen zu einer Reform Europas eben doch keine bloßen Gedankenspiele bleiben, sondern vielmehr Samen sein könnten, welche trotz des zu erwartenden Unwetters später Früchte tragen könnten und auch während der anstehenden Krisenjahre, welche man wohl mit Spengler als wahre „Jahre der Entscheidung“ zu betrachten hat, einen kleinen Hoffnungsschimmer darstellen können. Daß wir alle uns unsere Zukunft wohl eines Tages anders vorgestellt haben, steht außer Frage, ebenso wie die Tatsache, daß auch die Gesellschaft der Zukunft selbst im besten denkbaren Fall wohl nur wenig damit zu tun haben wird, wie wir sie uns im Idealfall vorstellen würden. Diese persönlichen Überlegungen und Vorlieben entheben uns aber nicht der Pflicht, die Herausforderungen der Geschichte dort aufzunehmen, wo sie uns begegnen, und unsere wertvolle Zeit nicht mit einem müßigen „Was wäre gewesen, wenn…“ zu verschwenden, sondern uns der Realität zu stellen und im gegebenen Rahmen das Beste daraus zu machen. In den kommenden Jahren wird derjenige, der zumindest diese eine Lektion der Geschichte begriffen hat, die besten Voraussetzungen haben, die Zukunft zu bestimmen, während die Ereignisse nicht nur über die Nostalgie der Ewiggestrigen, sondern auch die Utopien derjenigen, die den Kopf in den Wolken und vielleicht auch dem Regenbogen haben, achtlos hinweggehen werden...
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