Nichts als die halbe Wahrheit
Artikel vom
Journalismus ist, möglichst viele Meinungen zu haben. Es muss ja nicht die eigene sein.

Einer der größeren Nachteile meines Berufes (neben unregelmäßigem Geldeingang, mäkeligen Lektoren und einem ewig mahnenden Schreibtisch) sind die Zeitungsstapel, die überall herumfliegen: auf dem Fenstersims, auf dem Drucker, auf dem Boden, Stapel mit Zeitungen von gestern, letzter Woche oder 2010, die ich aufgrund irgendwelcher journalistischer Kapriolen beiseitegelegt habe in der Hoffnung, dass sich dereinst mal was verwerten lässt. Das stößt sich freilich mit meinem Ordnungssinn, weswegen im Idealfall zwischen Lektüre und Verwertung nicht mehr als 24 Stunden liegen; deswegen hier, „Süddeutsche Zeitung“ vom Donnerstag, in einem eigentlich okayen Artikel über die Münchner Präsentation von Helmut Dietls schlimmem Schrottfilm „Zettl“, der das legendäre „Kir Royal“ in Berlin fortschreibt (oder es jedenfalls versucht hat): „Helmut Dietl sitzt noch eine Weile mit seinen Filmgefährten in der VIP-Box. Am nächsten Morgen geht der Flieger nach Berlin, in die Stadt, die offenbar nicht zu begreifen ist.“ Abseits der Möglichkeit, dass ich hier die Ironie übersehe, ist es die reine Gedankenlosigkeit, die Tatsache, dass einer einen schlechten Berlin-Film gedreht hat, nicht dem Regisseur, sondern der unwiderstehlichen Macht des Alltagsmythos Berlin in die Schuhe zu schieben. Der halt schlicht nicht zu fassen ist.