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> TV-Interview von Christian Wulff

Übernachtungspauschale

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Natürlich dürfen auch Politiker umsonst bei Freunden übernachten. Natürlich haben sie das Recht auf eine Lebensgeschichte mit Brüchen und Unebenheiten. Ansonsten werden wir in einer aseptischen Republik leben, in der es so langweilig wird, dass selbst die Bild-Zeitung nichts mehr zu schreiben findet.

The European

Es ist kein Geheimnis, dass ich mich hier auf The European für Christian Wulff als Bundespräsidenten ausgesprochen habe. Ich hielt es für ausgesprochen richtig, einen Mann mittleren Alters mit diesem Amt zu betrauen, nicht, wie sonst üblich, den Großvatertyp, der als eine Art Weihnachtsmann der Bundesrepublik zu hohen Feiertagen in unsere Wohnstuben flimmert und Weisheiten feilbietet, die gut klingen, ansonsten aber verpuffen. Deutschland hatte einen solchen jugendlichen Bundespräsidenten verdient; die Bundesversammlung hat das wahr gemacht. Damit haben wir mit dem Typus des Bundespräsidenten ebenso gebrochen, wie wir es einige Jahr zuvor gemacht hatten, als eine ostdeutsche Protestantin Bundeskanzlerin wurde. Die spießigen Deutschen, die sich mit Frauen in Führungspositionen schwertun, wählen eine Frau zur Regierungschefin. In diesem Licht stehen die Deutschen mit der Wahl von Christian Wulff als modernes, innovatives Volk da.

Aktive Politiker haben zu viele Feinde
Nun, diese Einschätzung war falsch: Christian Wulff kam direkt aus einem hohen politischen Amt, als aktiver Politiker nach Bellevue – ohne Übergangszeit, "wie er selber im Interview mit Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf sagte":http://www.theeuropean.de/sebastian-pfeffer/9457-praesident-wulffs-interview-in-zdf-und-ard. Der aktive Politiker teilt aus, steckt ein. Die parlamentarischen Volten schließen die Freude darüber ein, dass die geschätzten Kollegen aus der Opposition einfach nicht präzise genug fragen. Das ist parlamentarische Praxis; sie lebt davon, dass Regierung und Opposition einander belauern. Das Amt des Bundespräsidenten lebt, egal ob der Amtsinhaber jung oder alt ist, davon, dass es diesen Ränkespielen entzogen ist. Das Amt, das heißt natürlich auch die Person, die das Amt ausübt. Christian Wulff hat sich als aktiver Politiker Feinde gemacht, Feinde machen müssen. Das bleibt nicht aus. Es gehört zum Geschäft. Man kann nie den Bedürfnissen aller entgegenkommen. Christian Wulff hat nicht nur Feinde in der Opposition, sondern auch in der eigenen Partei, bei der Union.
Wir Journalisten haben uns in eine missliche Situation gebracht
Und nun: das Thema Pressefreiheit. Es war überhaupt nicht schicklich, dass die beiden Interviewer (ebenso wie die mediale Zunft allgemein in den Tagen zuvor) auf diesem Thema rumgeritten sind. Denn mit dieser Wendung im Geschehen, dem Bekanntwerden der Ansage des Präsidenten auf der Mailbox von „Bild“-Chef Kai Diekmann, "sind wir Journalisten Teil des Konflikts geworden":http://www.theeuropean.de/alexander-goerlach/9341-weihnachtsansprache-von-wulff. Wir können nicht mehr objektiv sein; und je weiter wir uns in diese direkte Auseinandersetzung begeben, „Herr Präsident, wie stehen Sie zur Pressefreiheit?“, umso mehr diskreditieren wir uns als investigative und analytische Begleiter der Causa. Das ist sehr misslich, denn wir werden weiterhin gebraucht. Die Angelegenheit nimmt mittlerweile peinliche Züge an: Die „Bild“-Zeitung widerspricht der Aussage des Bundespräsidenten. Nein, es sei Herrn Wulff nicht darum gegangen, die Berichterstattung um einen Tag zu verschieben. Sollte der Bundespräsident elf Millionen Deutsche, die das Interview sahen, belogen haben? Das wäre ein unvorstellbarer Vorgang. Das werden wir in den kommenden Tagen erleben. Diese Kolumne hier kann nur ein Zwischenstand sein.
Das Amt des Bundespräsidenten abschaffen
Was für uns Deutsche nach einem Rücktritt von Christian Wulff zu diskutieren bleibt, ist unsere Erwartungshaltung gegenüber Politikern. Hier bleibt meiner Meinung nach festzuhalten: Selbstverständlich bleiben Politiker Menschen! Selbstverständlich dürfen sie bei Freunden übernachten, ohne, liebe Frau Schausten, dafür eine Übernachtungspauschale zu zahlen. Natürlich haben auch Politiker ein Recht darauf, gehört zu werden, wenn über ihre Familiengeschichte in den Medien berichtet wird. Natürlich haben Politiker ein Recht darauf, eine Lebensgeschichte zu haben, mit allen Brüchen und Unebenheiten. Wieso auch nicht? Sie kommen ja aus unserer Mitte, aus dem Volk, warum sollten sie anders sein? Warum weniger Fehler haben? Klar ist: Ans Gesetz müssen sie sich genauso halten wie alle anderen. Auch der Bundespräsident steht nicht über dem Gesetz. Zu Recht weist Christian Wulff darauf hin, dass noch kein Gesetzesbruch von einer dafür vorgesehenen Stelle festgestellt wurde. So lange gilt, auch für ihn, auch für Politiker, die Unschuldsvermutung. Vielleicht müssen wir innovativen Deutschen uns auch von unserem Ideal des Weihnachtsmann-Bundespräsidenten verabschieden. Heroen kommen nicht umsonst nur in den Mythen der Völker vor. Warum schaffen wir das Amt des obersten Moral-Apostels der Nation nicht einfach ab?
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