Was an Woodwards Story über Trump und Corona seltsam ist
Der Star-Journalist, der den Watergate-Skandal aufdeckte, hat 55 Tage vor der Präsidentschaftswahl eine neue Bombe platzen lassen: Donald Trump wusste von Beginn an, wie gefährlich der Corona-Virus ist. Dass er der Öffentlichkeit einzureden versuchte, es bestehe kein Anlass zur Sorge, habe dem Ziel gedient, eine Panik zu vermeiden. Warum aber spottete der Präsident noch vor einer Woche über den Maskenträger Joe Biden?

Bob Woodward ist ein Journalist, der nicht nur Geschichten schreibt, sondern die Geschichte mitformuliert. Vor nahezu einem halben Jahrhundert brachte der damalige Washington-Post-Reporter zusammen mit seinem Kollegen Carl Bernstein Präsident Richard Nixon in der Watergate-Affäre zu Fall. Gestern, 55 Tage vor der Präsidentschaftswahl, könnte er dem Amtsinhaber Donald Trump durch Vorab-Informationen aus seinem in wenigen Tagen erscheinenden Buch "Rage" (Wut) die letzten Chancen auf die Wiederwahl genommen haben. Denn Woodward beweist durch Interviews, von denen er (mit Wissen und Zustimmung des Präsidenten) teilweise Audioaufzeichnungen angefertigt und veröffentlicht hat, dass Trump in der Frage der Gefährlichkeit des Corona-Virus die Öffentlichkeit anhaltend belogen hat. Wird das seine Anhänger abschrecken? Joe Biden, der demokratische Gegenkandidat, spricht von einem "widerwärtigen Verhalten" und einem "Verrat des amerikanischen Volkes auf Leben und Tod". Oder nimmt man dem Präsidenten ab, dass er lediglich eine Panik vermeiden wollte? Dagegen aber spricht ein entscheidender Punkt.
Rückblick: Zu Beginn des Jahres 2020 war sich Trump seiner Wiederwahl offenkundig recht sicher. Hatte er 2016 selbst nie ernsthaft geglaubt, im Weißen Haus zu landen, sondern sich nur zum Ziel gesetzt, der „bekannteste Mensch der Welt“ zu werden, war die Situation nach drei Jahren im Amt eine andere. Die Arbeitslosenzahlen waren auf dem niedrigsten Punkt seit vielen Jahren, der Dow Jones auf einem Allzeithoch und die Demokraten hatten keinen stärkeren Kandidaten zur Hand als den nach Trumps harschen Urteil fast schon senilen Joe Biden. Und dann kam Corona.
Woodward enthüllt nun, dass der Präsident frühzeitig über die tödliche Gefahr des Virus Bescheid gewusst und sie gegenüber der Öffentlichkeit klein geredet hat. Der Nationale Sicherheitsberater Robert C. O’Brien habe dem Präsidenten bereits am 28. Januar unter Berufung auf die Geheimdienste erklärt, Corona sei „die größte Bedrohung der nationalen Sicherheit während Ihrer Präsidentschaft“, schreibt Woodward. Zehn Tage später, am 7. Februar, habe Trump den Buchautor angerufen. Die Situation sei weitaus ernster als das, was er öffentlich sage. „Sie atmen einfach Luft ein und so wird es übertragen. Das ist was sehr Schwieriges. Das ist was sehr Heikles. Das ist auch tödlicher als selbst eine starke Grippe.“ Doch, so sagte Trump zu Woodward am 19. März in einem weiteren Gespräch, er wolle und wollte es „immer herunterspielen“, „weil ich keine Panik auslösen wollte“.
Was die Geheimdienste wussten
Bekannt war schon zuvor, dass die US-Regierung am 3. Januar 2020 förmlich von der chinesischen Regierung über den Ausbruch der Atemwegserkrankung informiert worden. Die eigenen Geheimdienste bestätigten, die Situation sei sehr ernst. Erste Covid-19-Erkrankte in den USA wurden ab dem 6. Januar gemeldet. Trump dementierte öffentlich die neue Gefahr. „Wir haben es total unter Kontrolle“, versicherte er am 22. Januar während des Weltwirtschaftsforums in Davos auf die Frage eines CNBC-Journalisten. Bei dieser Linie blieb er über Monate: „Viele (Experten) erwarten, es verschwindet im April mit der Hitze.“ (10. Februar) Und: „Das Risiko für das amerikanische Volk bleibt sehr gering.“ (26. Februar) Oder: „Die Fake-News-Medien mit ihren Partnern, den Demokraten, (…) tun alles, um die Coronavirus-Situation aufzubauschen, weit über das hinaus, was die Fakten rechtfertigen.“ (9. März)
Immerhin hatte Trump zwischenzeitlich erste Maßnahmen verfügt: Ab 31. Januar gab es Einreisebeschränkungen für Nicht-Amerikaner, die aus China kamen. Flugzeuge aus dem Reich der Mitte durften nicht mehr in den USA landen. Deutsche Flughäfen standen chinesischen Airlines da noch offen.
Nach Veröffentlichung der Tonbandaufnahmen für Woodwards Buch räumte Trump am Mittwoch ein, dass er die Situation verharmlost habe, um eine Panik zu vermeiden. Er sei der „Cheerleader“ der USA, die er liebe, und „ich möchte die Leute nicht verängstigen“. Handelte es sich also um eine barmherzige Lüge im Dienste einer guten Sache? Was überhaupt nicht dazu passt: Wenn sich Trump keinerlei Illusionen hingab, warum lehnte er, das Vorbild für viele Amerikaner, trotz täglich neuer Infizierten- und Todeszahlen über Monate das Tragen einer Gesichtsmaske ab? Erstmals ließ er sich damit am 12. Juli sehen. Er hätte wohl das Gegenteil einer Panik ausgelöst, wenn er wesentlich früher erklärt hätte: „Liebe Landsleute, wir haben alles unter Kontrolle. Aber damit das so bleibt, bitte ich euch im Geiste von America first, in der Öffentlichkeit euch und andere mit einer Maske zu schützen!“
Warum Trumps Darstellung nicht passt
Doch nichts davon. Als ein Fox-News-Journalist am 26. März ein Bild von Joe Biden mit dunklem Mund-Nasen-Schutz plus Sonnenbrille und der Bemerkung twitterte, dieses Bild könne möglicherweise erklären, „warum Trump es nicht mag, öffentlich eine Maske zu tragen“, retweetete Trump den Gag. Noch am 4. September spottete der Präsident bei einem Auftritt in Pennsylvania über den Gegenkandidaten: „Haben Sie je einen Mann gesehen, der Masken so sehr mag?“ Biden suche offenkundig Sicherheit. Wäre er, Trump, Psychiater, „würde ich sagen, dieser Kerl hat ein paar große Probleme.“
Und: Warum wollte Trump unbedingt weiterhin Massenveranstaltungen im Wahlkampf abhalten, zu denen Leute kommen sollten, die er angeblich so sehr liebt und deren Cheerleader er sein möchte? Wer tut so etwas, wenn er überzeugt ist, dass der Virus "tödlich gefährlich ist"?
Dabei hatte sich Trump am 17. März, in Übereinstimmung mit seinen zunächst unveröffentlichten Gesprächen mit Woodward, vor Journalisten gebrüstet: „Dies ist eine Pandemie. Ich fühlte, dass es eine Pandemie ist, lange bevor es Pandemie genannt wurde.“ Er habe das "gefühlt"? Was für eine abwegige Anmaßung von jemanden, der sein Wissen auf die besten Geheimdienste der Welt stützen kann. Vier Tage später verbreitete er via Twitter die Hoffnung, das zur Malaria-Bekämpfung entwickelte Arzneimittel Hydroxychloroquin könne helfen. Der Präsident als Hausarzt.
Wie passen frühzeitiges Wissen und gleichzeitiger Spott über Corona-Masken-Träger zusammen? Wie die Überzeugung, der Virus sei eine tödliche Gefahr, mit dem Aufruf von Anhängern zu Wahlkampfgroßveranstaltungen? Wie seine Kritik an Gouverneuren und Bürgermeistern, die Sicherheitsstandards durchsetzen wollten? Die Antwort: Trump hat eine extrem kurze Aufmerksamkeitsspanne. Er war mutmaßlich kurz vor seinen Gesprächen mit Woodward von Geheimdienstlern über die Gefährlichkeit von Covid-19 informiert worden und wusste, das Buch der Journalistenlegende würde sein Bild in der Zeitgeschichte teilweise definieren. Darum protzte er mit Insiderwissen. Am nächsten Tag saß er mit seinen Wahlkämpfern zusammen, die ständig (in Bestätigung seiner öffentlichen Aussagen) Argumente dafür sammelten, dass alles nicht so schlimm sei. Wenn dann ein Experte mutmaßte, sobald es wärmer werde, verschwinde der Virus möglicherweise, verbreitete Trump diese Hoffnung wie ein Faktum weiter. Trump neigt dazu, stets die Position seines letzten Gesprächspartners zu übernehmen, solange dessen Argumentation knapp und nachvollziehbar ist.
Wer glaubt ihm jetzt noch?
Die Zahl der Corona-Toten in den USA ist gewaltig. Sie liegt aktuell bei über 190.000, während sie weltweit die 900.000 überschritten hat. Allerdings ist die Opferzahl pro eine Million Einwohner in etlichen Ländern höher. Am 10. September etwa waren in Proportion zur Bevölkerung am meisten Menschen in Peru gestorben, es folgten unter anderem Belgien, Spanien, Großbritannien und Italien. Die USA standen in dieser traurigen Liste auf Platz 10, auch wenn dort in absoluten Zahlen mehr Menschen Covid-19 zum Opfer gefallen waren als in jedem anderen Land. Spätestens seit den Woodward-Enthüllungen muss man dem Präsidenten vorwerfen, dass er wohl viele Menschen hätte retten können mit einem besonnenen Aufruf, nicht in Panik zu verfallen, aber Corona gleichwohl ernst zu nehmen. In keinem Land, in dem Regierungen nach diesem Muster verfuhren, ist Panik ausgebrochen. In den USA wäre dies nicht anders gewesen. Doch wer sich auf das Vorbild des Präsidenten berufen konnte, wenn er das Tragen einer Maske und im Zweifel auch die Abstandsregeln ignorierte, hat im Zweifel den Virus verbreitet und sah sich dabei in Übereinstimmung mit dem Weißen Haus.
Im zweiten Quartal brach das Bruttoinlandsprodukt in den USA um 32,9 Prozent ein. Aber schon im August rutschte die zuvor auf 14 Prozent gekletterte Arbeitslosenquote wieder auf einen einstelligen Wert unter zehn Prozent. Im September sprach Trump zudem davon, ein Impfmittel gegen Corona könne zum Jahresende „oder sogar früher“ gefunden werden. Vielleicht will er den Durchbruch kurz vor dem 3. November verkünden? Allerdings: Wer glaubt ihm jetzt noch?
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