Die besten Comics des Jahrzehnts
Jens Balzer, Popkritiker und Autor von "Outcault. Die Erfindung des Comic", hat für The European eine Liste der besten Comics der letzten zehn Jahre zusammengestellt.

1) Chris Ware: Jimmy Corrigan, The Smartest Kid on Earth Ein Jahrzehntwerk im wahrsten Sinne des Wortes: Souveräner, komplexer und origineller als Chris Ware beherrscht niemand die Zeichensprache des Comics; seine Geschichte von Jimmy Corrigan, dem smartesten, aber auch einsamsten Kid auf der Erde, ist herzzerreißend traurig und hoch allegorisch. Ecce homo. 2) Joann Sfar: Le Chat du Rabbin (Die Katze des Rabbiners) Seit die Katze des Rabbiners dessen Papagei fraß, hat sie die menschliche Sprache erlernt. "Wenn der Mensch Gott gleicht, weil er sprechen kann, dann bin ich dem Menschen gleich", sagt sie zum Rabbiner und stellt die gesamte Ordnung der Lebewesen infrage: Diese Serie von Joann Sfar ist ein philosophisch angehauchtes Comic-Epos. 3) Marjane Satrapi: Persepolis Mit ihren autobiografischen Jugenderinnerungen, die vom Teheran des Revolutionsjahrs 1979 über die Teenagerjahre in der entstehenden Islamischen Republik bis zu den schwierigen Versuchen reichen, als Exilantin in Europa Fuß zu fassen, hat Marjane Satrapi den bis heute anhaltenden Boom der politischen Historien-Comics begründet. 4) Scott McCloud: Reinventing Comics (Comics neu erfinden) Mit seiner in Comic-Form gehaltenen Theorie des Comics im digitalen Zeitalter hat Scott McCloud schon im Jahr 2000 eines der maßgeblichsten ästhetischen Comic-Werke der Dekade erschaffen; erst am Ende des Jahrzehnts lässt sich vielleicht ganz ermessen, wie visionär seine Überlegungen waren. 5) David B., L' Ascension du Haut Mal (Die heilige Krankheit) In diesem autobiografischen Comic berichtet David B. von der Kindheit und Jugend mit seinem an Epilepsie leidenden Bruder. Psychologisch-realistische Bilder von unerhörter Intimität wechseln mit geradezu surrealen Episoden, in denen Innen- und Außenwelt, der kindliche Blick auf die Krankheit und der Rückblick des Erwachsenen auf seine Kindheit ineinander verschwimmen. 6) Ben Katchor: The Jew of New York (Der Jude von New York) Die unglaubliche, aber wahre Geschichte des Versuches, 1825 an den Niagarafällen einen Judenstaat auf amerikanischem Boden zu errichten, erzählt in zart ziselierten, kunstvoll vergilbten, wie aus alten Zeitungen und Papiertheatern geretteten Bildern. 7) Alison Bechdel: Fun Home In den Nullerjahren redeten alle plötzlich von "Graphic Novels". Aber nur wenige Comics besaßen wahrhafte literarische Qualität. Diese bittersüße Coming-out-Geschichte von Alison Bechdel, zugleich eine Hommage an ihren geliebten, fremden Vater, zählt unbedingt dazu. 8) Joe Sacco: Palestine (Palästina) Auch ein Lieblingsgenre der Nullerjahre: die Comic-Reportage. Aber nur wenige Zeichner waren so dicht am Geschehen und erzählten ihre Storys so visuell virtuos wie Joe Sacco in diesem Reisebericht aus den Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern des Nahostkonflikts. 9) Killoffer: Six Cent Soixante-Seize Apparitions de Killoffer (Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer) Eine Sternstunde der Comic-Avantgarde: Patrick Killoffers großformatige Zeit- und Bewegungskristalle sprengen das Seiten-Layout. Er erzeugt damit eindrucksvolle Bilder eines zersplitterten Bewusstseins. 10) Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens Welch ein Glück! Kurz vor dem Ende des Jahrzehnts erschien auch noch der beste deutschsprachige Comic seit sehr langer Zeit: Ulli Lusts epische Story über die Lehr- und Wanderjahre eines Punkmädchens im Italien der 80er-Jahre sind ein einsamer Höhepunkt der hiesigen Comic-Kultur.