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Politik > Top-Ökonom konfrontiert AfD-Wähler mit steiler These: Sie schaden sich selbst. Hat er recht?

Top-Ökonom konfrontiert AfD-Wähler mit steiler These: Sie schaden sich selbst. Hat er recht?

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DIW-Chef Marcel Fratzscher hat nachgerechnet: Wenn die AfD ihre politischen Ziele umsetzen könnte, würden darunter vor allem die leiden, die sie gewählt haben. Allerdings hat seine Studie den einen der anderen Schönheitsfehler. Dazu kommt ein generelles Problem. Von Oliver Stock

Die AfD schneidet besser in Wahlkreisen ab, in denen die Perspektivlosigkeit groß ist. Quelle: Picture Alliance
Die AfD schneidet besser in Wahlkreisen ab, in denen die Perspektivlosigkeit groß ist. Quelle: Picture Alliance

Erringt die AfD in Wahlen so viele Stimmen, dass sie sich an einer Regierung beteiligen kann, und setzt dann ihr Programm um, so würde das einer Gruppe besonders schaden: ihren Wählern. Zu diesem paradoxen Ergebnis kommt Marcel Fratzscher, als Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaft in Berlin, einer der führenden ökonomischen Köpfe des Landes. Hat er recht?

 

 

 

Fratzscher hat eine Studie vorgelegt, die seine These untermauern soll. (https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.879721.de/diw_aktuell_88.pdf) Darin wirft er zunächst einen Blick auf jene Daten, die es über AfD-Wähler gibt, analysiert dann die Ziele der Partei und schätzt schließlich ab, ob das Erreichen dieser Ziele, den Wählern mehr nützt als schadet. Was er über die Wählerinnen und Wähler zusammengetragen hat, beruht auf Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Forsa aus dem Juni. Danach würden Menschen zwischen 45 und 59 Jahren überdurchschnittlich häufig die AfD wählen. Ältere Untersuchungen hätten darüber hinaus gezeigt, dass ihr Einkommen ebenso wie ihre Bildung eher gering bis mittelhoch ist. Arbeiter und Arbeitslose sind unter den Wählern überdurchschnittlich häufig vertreten. Die Unzufriedenheit über das eigene Leben und über den Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft ist unter AfD-Wählern deutlich höher als im Durchschnitt. Die Zustimmung zur AfD ist vor allem unter Wählern in Ostdeutschland hoch, insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen, die unter Abwanderung leiden. Die AfD schneidet besser in Wahlkreisen ab, in denen die Perspektivlosigkeit groß ist, die Chancen für junge Menschen gering und durch deren Abwanderung wichtige Infrastrukturen für Familien und Kinder – und damit auch für Unternehmen – schlechter werden.

 

 

 

Niemand will Sozialleistungen mehr beschneiden

Die Politik, für die die AfD steht, hat Fratzscher in verschiedene Bereiche unterteilt und stellt fest: Die Partei fordert eine sehr liberale Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie setzt sich in fast allen Bereichen für Steuersenkungen ein. Jüngste Beispiele für diesen Kurs seien die Erbschaftsteuer und die Besteuerung großer Vermögen. Den Solidaritätszuschlag für Spitzenverdiener wolle die Partei komplett abschaffen. Bei der Klimapolitik gebe es keine große politische Gruppierung, die Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Klima systematischer ablehnt als die AfD. Sie sei gegen den Kohleausstieg 2038 genauso wie gegen ein Verbot von Verbrennungsmotoren, die Förderung von ökologischer Landwirtschaft und den Ausbau von Windenergie. In der Kategorie Sozialpolitik wünsche sich keine Partei im Bundestag stärkere Einschnitte bei den Sozialleistungen als die AfD. Sie spreche sich gegen eine Stärkung der Rechte der Mieter aus, hat gegen die Erhöhung des Mindestlohns votiert und will das Bürgergeld beschneiden.

 

 

 

 

Fratzscher fasst zusammen: „Die Widersprüche zwischen den Interessen der AfD-Wähler und den Positionen der AfD könnten kaum größer sein. Steuersenkungen für die Spitzenverdiener, niedrigere Löhne für Geringverdiener und eine Beschneidung der Sozialsysteme würden AfD-Wähler viel stärker negativ treffen als die Wähler der meisten anderen Parteien. Würde sich die AfD-Politik durchsetzen, käme es zu einer Umverteilung von Einkommen und sozialen Leistungen von AfD-Wählern hin zu den Wählern anderer Parteien.“

 

 

 

 

Soweit lässt sich dem Ökonomen folgen. Was seine Studie allerdings angreifbar macht, ist, dass er auch andere AfD-Forderungen als schädlich für die Anhängerschaft der Partei bezeichnet, die es nicht zwingend sind. Er kritisiert, dass die AfD, die Rechte und Freiheiten vor allem für Minderheiten beschneiden will. Sie sei die einzige Partei im Bundestag, die sich gegen eine staatliche Anerkennung von islamischen Verbänden als Religionsgemeinschaften ausspricht, die sich gegen die Berücksichtigung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten in Veröffentlichungen der Bundesbehörden wendet und eine Ausweitung des Wahlrechts bei Bundestagswahlen auf Jugendliche ab 16 Jahren ablehnt. Wie das den AfD-Wählern schaden soll, beschreibt Fratzscher allerdings nicht. Stattdessen wird er pauschal: „Die individuelle Fehleinschätzung liegt darin, dass viele AfD-Wähler nicht realisieren, dass eine Politik der Diskriminierung und Ausgrenzung sie selbst stark negativ betreffen würde. Denn sie selbst gehören häufig zum unteren Rand der Einkommensverteilung, genießen seltener Privilegien haben weniger Chancen als andere und sind stärker auf finanzielle Leistungen des Staates angewiesen.“

 

 

 

 

Unterm Strich: Fratzscher hat mit seiner Studie einen Beitrag geleistet, der AfD-Wähler nachdenklich machen soll. Er ist dabei übers Ziel hinausgeschossen, was der Studie schadet. Das größere Problem ist aber: Diejenigen, die nachdenklich werden könnten, sind meistens immun gegen Argumente von denen, die sie inzwischen als ihre erklärten Gegner ausgemacht haben. Die Debatte ist schon lange vergiftet. Das Zuhören wurde abgeschafft. Dazu haben beide Seiten beigetragen.

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