„Wir sind digitale Immigranten“
Verändert der digitale Fortschritt unser Menschenbild? Martin Eiermann sprach mit der Soziologin Zeynep Tufekci über die Aufstände in der arabischen Welt, Konventionen im Netz und das Tempo des technologischen Fortschritts.

*The European: Lassen Sie uns mit einer Beobachtung einsteigen. Es ist im vergangenen Jahr viel über soziale Netzwerke und die arabischen Revolutionen geschrieben worden. Doch die Debatte scheint oftmals nicht darauf abzuzielen, wie diese beiden Entwicklungen zusammenhängen – sondern ob sie es überhaupt tun.* Tufekci: Die Frage nach Kausalität bringt uns nicht weiter, wenn sie als Ja/Nein-Frage formuliert wird. Erstens ist Online inzwischen Teil der realen Welt. Digitale Netzwerke verändern und ergänzen das, was offline passiert. Sie schaffen neue Foren für Diskussionen, sie vernetzen uns und führen zu neuen Formen der Koordination und Kollaboration. Zweitens sind Revolutionen immer multikausal. Hat die Erfindung des Buchdrucks die Französische Revolution ausgelöst? Das ist keine sinnvolle Frage, weil der Buchdruck ohne Zweifel mit der Vorgeschichte der Französischen Revolution verbunden ist. Aber natürlich war das nicht der einzige Grund für den Sturm auf die Bastille. Genauso lässt sich auch die Geschichte des Arabischen Frühlings nicht erzählen, ohne Facebook und Twitter zu erwähnen – nicht nur 2011, sondern während der letzten zehn Jahre. Man kann die Geschichte aber auch nicht erzählen, ohne dabei die Hingabe und das strategische Können der Aktivisten zu erwähnen, oder den Mut der Demonstranten auf der Straße, oder den wirtschaftlichen Zerfall, die religiösen Konflikte, die Arbeiterbewegung, die wachsende Frustration mit Korruption und Vetternwirtschaft und die Perspektivlosigkeit der Jugend. Kausalität ist immer vernetzt, verschiedene Entwicklungen beeinflussen einander. Die Verbreitung des Internets ist ein Faktor.