Türkisches Tian'amen
Früher oder später musste Protest gegen Erdoğans Politik ausbrechen. Seine Reaktion wird zeigen, ob nun Demokratie oder Faschismus folgt.

Der Taksim-Platz in Istanbul, wo aktuell Tausende von Türken gegen ihre Regierung demonstrieren, gleicht immer mehr dem Tian'anmen-Platz in Beijing im Jahre 1989. Den Wunsch nach mehr politischer Teilhabe unterdrückte die chinesische Führung dort mit Gewalt, und so wurde ein neues China geboren: eine Mischung aus liberaler Wirtschaftspolitik und Diktatur. Auch der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan weiß, dass die Bürger seines boomenden Landes mehr Mitbestimmung wünschen. Er hat die Wahl, dieses Verlangen auf chinesische Art niederzuschlagen oder den Weg zur Demokratie zu Ende zu gehen. Interessanterweise kann man den genauen Zeitpunkt einer Revolution nie vorhersagen. Aber man kann ihr Ausbrechen erahnen – das zeigen die aktuellen Proteste in Istanbul. In den vergangenen Jahren endete jedes meiner Gespräche mit (säkularen) Türken mit dem gleichen Urteil: „Erdoğans islamische Reformen gehen zu weit“ und „früher oder später werden die Bürger auf die Straße gehen“. Als ich vor zwei Wochen da war, sah der Taksim-Platz allerdings aus wie immer: Das Zentrum der Istanbuler Wirtschaft war voller Menschen, doch keine Spur von Protesten, Sit-ins oder Demonstrationen.