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> Syrien im Netz
Retweeting the Revolution
Artikel vom
Die Ereignisse in Syrien sind zu vorhersehbar, um von großen Medien beleuchtet zu werden – doch schlechte Nachrichten verschwinden nicht, wenn weggeschaut wird.

Allein aufgrund seiner Allgegenwärtigkeit mag der Begriff Shitstorm der "Anglizismus des Jahres":http://www.scilogs.de/wblogs/blog/sprachlog/sprachwandel/2012-02-13/and-the-winner-is-shitstorm sein – meine liebste Sprachentlehnung der letzten Jahre ist und bleibt aber der „slacktivism“: Als Kombination aus „slacking“ und „activism“ beschreibt der Slacktivism den Einsatz für ein hehres Ziel, ohne dabei den Komfort des eigenen Sofas verlassen zu müssen: Welch treffliche Bezeichnung für verfehlte Zivilcourage im 21. Jahrhundert.
Wegschauen aus Gewohnheit
Mitsamt seiner „Filter Bubble“ ist Eli Pariser in den vergangenen Tagen "erneut durch die Medien gezogen":http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,814046,00.html, doch als er vor einem halben Jahr der amerikanischen Sendung „Democracy Now!“ "ein Interview gab":http://www.democracynow.org/2011/5/27/eli_pariser_on_the_filter_bubble, prägte sich mir mehr als nur seine Abhandlung über das personalisierte Netz ein: Pariser hielt Facebook für die Verbreitung von schlechten Nachrichten für allgemein ungeeignet, da Informationen über Kriegsopfer, Hungersnöte etc. kaum virales Potenzial aufweisen – klicken doch wenige beim Bild eines verhungernden Kindes auf „gefällt mir“ und teilen es mit ihren Freunden. Seine Theorie ließe sich anhand von Syrien trefflich durchexerzieren, doch die Hintergründe für die seltsame Zweitrangigkeit, die dieser Krieg in den Medien einnimmt, scheint eine andere Quelle zu haben. So mögen die Ursachen des augenblicklichen Konfliktes noch so komplex sein, ihr Verlauf weist eine erschreckend banale Regelmäßigkeit auf: Assad bekundet, das eigene Volk nicht zu beschießen, die Überreste der Stadt Homs werden weiter zerschossen, internationale Anführer heben den Zeigefinger und der Kreislauf wiederholt sich. Über die selektive Aufmerksamkeit von Medien ist viel geschrieben worden, doch bleibt es erschreckend, dass in den vergangenen Wochen erst westliche Journalisten getötet werden mussten, damit die Ereignisse aus Syrien wieder an erster Stelle in unsere "Wohnzimmer hineingetragen wurden":http://theeuropean.de/martin-eiermann/9917-massaker-in-syrien. Ebenso die Nachricht über eine bevorstehende Bodeninvasion in Homs – diese erreichten mich ausgerechnet über Twitter. So fand ich mich in einem Berliner Restaurant wieder, wo ich inmitten der heilen Welt dem syrischen Horror auf meinem Telefon folgte, nur um bei Ankunft des Essens den Krieg zurück in die Hosentasche zu verstauen – es war dieser Moment, der mir die seltsame Entfremdung vom Krieg erst richtig deutlich machte. Was stellt es mit uns an, wenn ein Krieg wahlweise ein- oder ausgeschaltet werden kann? Individuell zugeschnittene Nachrichten sollen nach Meinung der Zukunftsforscher zwar unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, doch je leichter es damit wird, den Tag ohne schlechte Nachrichten von Krieg und Bombardierungen zu verbringen, desto leichter kann auch die syrische Realität ausgeblendet werden.Pariser ein Schnippchen schlagen
Die "Soziologin Zeynep Tufekci":http://theeuropean.de/zeynep-tufekci schreib kürzlich "in ihrem Blog":http://technosociology.org/, Syrien sei der erste Krieg an Zivilisten, den wir im Livestream verfolgen können – gleichgültig, mit welcher Macht das syrische Regime die Stimmen aus dem Land zu ersticken versucht. Es ist leicht, in Anbetracht dieser Tatsache pessimistisch zu werden, denn macht es uns nicht automatisch zu Slacktivisten, die als einzige Waffe gegen Ungerechtigkeit den Zeigefinger auf die Maus legen? Tufekci bleibt optimistisch, da sie die syrischen Ereignisse zumindest als Meilenstein in der Dokumentierung von Geschichte wahrnimmt, etwas das in jüngster Vergangenheit nicht nur in Srebrenica wichtig gewesen wäre. Doch die Implikation geht noch darüber hinaus: Selbst ein simpler Retweet kann Aufmerksamkeit generieren und Parisers Theorie ein Schnippchen schlagen, wenn er auch nur ein eingeschränktes bisschen Verständnis über die aktuelle Lage erzeugt. Unser kollektives Entsetzen ist somit letztlich doch analog zum Shitstorm, der durchs Land fegt – und mit ein wenig Glück die richtigen Menschen erreicht, damit die angesprochene Regelmäßigkeit durchbrochen werden kann.Kommentare (0)
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