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> Steffen Seibert und seine Neider

Die Seiten des Schreibtischs

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Warum neiden so viele Berliner Journalisten Steffen Seibert den neuen Job als Regierungssprecher? Wer die Antwort auf diese Frage möchte, der muss sich für einen Moment in den Mediendschungel und Politbetrieb der Hauptstadt begeben.

The European

Wer außerhalb des Kreises der Journalisten versteht eigentlich, was gemeint ist, wenn im Zuge der Ernennung des neuen Regierungssprechers von den harten Bedingungen in der Berliner Polit-Arena die Rede ist, mit denen er, Steffen Seibert, zu kämpfen hätte? Vielleicht sind ein paar Zeilen angemessen, um es dem Neugierigen näher zu bringen. Bei einem Journalistenfrühstück mit einem Koalitionspolitiker der ersten Reihe kommen gerne einmal so 20 bis 30 Journalisten. Sie alle müssen im Nachgang zu dem Treffen etwas schreiben. Sie alle versuchen daher, entweder noch mehr aus den Aussagen des besuchten Politikers herauszuhören oder nach Ende des Gesprächs dem Politiker selber oder seinem Pressesprecher aufzulauern, um entweder einen Einzeltermin zu erbitten oder noch ein Iota mehr Information mitzunehmen. Keiner der 30 Kollegen kann sich erlauben, weniger gut dazustehen als die anderen. Da Informationen, exklusive Informationen, in diesem Umfeld rar gesät sind, sind sie die härteste aller Währungen im Berliner Politgeschäft. Diese Konkurrenzsituation schafft spitze Ellenbogen.

Eins, zwei oder drei – diese Ziffern beschreiben das Leben des Berliner Polit-Journalisten
Es wird Sie nicht wundern: In diesen Hintergrundkreisen erhalten die Kollegen die wichtigen Infos nicht wirklich. Bisweilen erhalten einige Top- und Premiumjournalisten echte Hintergrundinfos im Einzelgespräch und nur „unter drei“, das bedeutet, dass sie gar nicht in der Berichterstattung verwendet werden dürfen. Der Vollständigkeit halber: „Unter eins“ ist eine Aussage, die voll zitiert werden darf inklusive des Namens dessen, der sie äußert. „Unter zwei“ ist so was wie „... sagte ein ranghoher Mitarbeiter des Ministeriums, der seinen Namen hier nicht lesen möchte“. Es ist also klar, woher eine Aussage kommt, aber nicht von wem. Aus der Masse der berichterstattenden Journalisten stechen daher nur wenige, sehr gut Informierte hervor. Der Großteil bleibt eine mehr oder minder namenlose Truppe. Das muss man wissen, um als Nicht-Medien-Mensch den Rummel um den neuen Regierungssprecher Steffen Seibert zu verstehen: Der ZDF-Moderator war schon zu Journalistenzeiten kein Gesichtsloser. Nun wechselt er die Seite des Schreibtischs (so nennen das die älteren Kollegen, wenn einer von uns vom Journalisten zum Sprecher wird), auf einen nicht minder, manche würden sagen, noch exponierteren Posten. Der Journalist, der ganz nahe an der Macht sein darf. Der Traum aller politischen Berichterstatter.
Steffen Seibert – der bestinformierte Journalist Berlins
Und in den ersten Wochen und Monaten des innerlichen Übergangs von der einen zur anderen Profession wird für Steffen Seibert das Gefühl bestimmend sein, dass er nun viele der politischen Geschehnisse, über die in Redaktionen orakelt wird, die er vom fernen Mainz aus verstehen musste, nun aus erster Hand mitbekommt und durchdringt. Irgendwann wird die neue Professionalität als Sprecher den kritisch-journalistischen Blick in den Hintergrund drängen. Aber bis es so weit ist, ist Steffen Seibert der bestinformierte Journalist in der Hauptstadt.
Das packt er nicht
Heißt das jetzt im Klartext, dass die Kritiker Seiberts ihm den neuen Job neiden? Das mag auf manchen zutreffen. Sein Wechsel markiert aber viel eher für den einen oder anderen den Niedergang des Berufsstands. Viele gelernte Journalisten verdienen heute deutlich mehr, wenn sie Unternehmensbroschüren erstellen oder als Autoren für solche tätig sind. Als Sprecher in der Wirtschaft sowieso. Auch Steffen Seibert wird auf seinem neuen Posten mehr verdienen als zuvor beim ZDF, war zu lesen. Zeilenschrubben in einem Betrieb, in dem Hunderte dasselbe machen wie man selber, ist dann nicht mehr attraktiv. Weder finanziell noch für die innerliche Zufriedenheit. Sich das einzugestehen tut allen Journalisten, tut uns weh. Der Schreibtisch hat heute mehr als zwei Seiten. Nun brauchen aber alle erst einmal Steffen Seibert. Die Parlamentskollegen werden ihm ins Gesicht freundlich sein. Mindestens eine Hälfte wird hinten herum allerdings sagen: Das packt er nicht. Oder es freundlicher ausdrücken: Das wird sehr, sehr schwer für ihn. Was so viel heißt wie: Das packt er nicht.
Eine besondere Form des Neides
Weil es sich um einen ehemaligen Kollegen handelt, dessen Talent man bewundert und dessen Dauerpräsenz auf dem Sender man ihm geneidet hat, fällt es besonders schwer zu schreiben, dass die Personalie Seibert ein Glanzstück der Politik der Kanzlerin ist. Also doch vor allem Neid? Im Mittelalter, wenn die Geistlichen ähnliche Aufzüge veranstalteten wie heute wir Journalisten, erkannte man darin eine Spezialform des Neides: invidia clericalis. Klerikerneid. Mein Latein reicht nicht aus für eine analoge moderne Wortschöpfung, also nenne ich es auf Deutsch: Journalistenneid. Wir alle wären gern einmal die, die noch bei der Kanzlerin stehen, wenn der letzte Kollege nach dem Hintergrundgespräch nach draußen komplimentiert ist und die Sache so betrachtet wird, wie sie wirklich ist. Für diesen kleinen glückseligen Moment wechseln gern mal auf einen Sprecherposten, die mit Herzblut politische Berichterstatter sind. Ist das wirklich so boshaft, wie das Mittelalter diese Eigenschaft bei den Geistlichen sah? Mit der Binnensicht, die Sie nun haben, bestätigen Sie mir sicher, dass das Verhalten von uns Hauptstadt-Journalisten angesichts der Umstände eigentlich nur verständlich ist.
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