„Ich halte Lifestyle-Magazine für schädlich“
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Oversexed but underfucked? Clemens Lukitsch sprach mit Ariadne von Schirach über den Einfluss der Medien auf die menschliche Sexualität, moderne Familien und den Medienrummel um Sexskandale.

*The European: Frau von Schirach, wir waren uns nicht ganz sicher, ob wir das Thema überhaupt bringen sollten - ein in der Magazinwelt teilweise viel zu häufig bemühtes Thema. Reden wir nicht ständig über Sex? Würde es schaden, einfach mal die Schnauze zu halten?*
von Schirach: Ich glaube, es ginge den Menschen generell besser, wenn sie nicht so viel reden würden. Es gibt einen riesigen Abgrund zwischen der Ebene der Sprache, der Sprachbilder und der Ebene des Erlebens und der Tat. Beim Schreiben meines Buches hatte ich schon das Gefühl, dass das Darstellen der eigenen Sexualisiertheit oder das Wecken des Begehrens im anderen, als Inszenierung einer Sexiness – wir kennen das aus der Welt der Promis - die Begegnung mit dem anderen ersetzt. Diese Begegnung ist aber notwendig. Und nicht nur im Sinne eines möglichen Geschlechtsverkehrs. Bei der Sexiness geht es hauptsächlich um das Wecken, aber nicht um das eigentliche Erfüllen des Begehrens. Das ist die Schlagseite an der ganzen Sache.
*The European: Wenn wir reden, wie viel hat das dann noch mit uns zu tun? Mit dem, was wirklich in den (deutschen) Schlafzimmern vor sich geht? Das Interesse an dem Thema, vermerken wir, bleibt konstant. Vor allem Lifestyle-Magazine bespielen diese Zone auf dem Medienmarkt regelmäßig.*
von Schirach: Ich möchte Mark Twain zitieren: „Wenn wir endlich einsehen, dass wir alle verrückt sind, wäre die Welt erklärt.“ Unser Begehren ist ja etwas, das nie in die Welt passt, stets aneckt. Es ist wahnsinnig beruhigend zu erfahren, dass die anderen auch Schwierigkeiten haben. Das ist die Quelle des Interesses. Denken Sie an den "Kinsey-Report":http://de.wikipedia.org/wiki/Kinsey-Report - sich zu vergewissern, dass ich nicht alleine mit meinen Perversionen und Leidenschaften bin. Das Reden über Sex ist eine Art Gruppenfindung. Ein Akt der Befreiung. Gleichzeitig ist Sexualität zu einer Art Label verkommen, das wie ein Lebensersatz scheint. Das kann sie gar nicht leisten. Das Thema beschäftigt Menschen, weil es uns in einem Mangel betrifft. Sex ist immer komisch. Und gleichzeitig hat sich der heutige Bilderdiskurs in den Medien und im Internet total von allem Menschlichen losgelöst. Wir haben mit Körpern bzw. mit Bildern von Körpern zu tun, die es so in der Realität gar nicht gibt. Mit Geschichten, die es gar nicht gibt. Leute werden berühmt, weil sie angeblich einen Pornofilm von sich irgendwo vergessen haben. Das Irreale trifft sich mit dem Irrealen unserer eigenen Sexualität.
„Da wird einem doch schlecht“
*The European: So wie wir unser Outfit zusammenstellen, unseren Körper im Fitnesscenter formen und uns angesagte Partys aussuchen, möchten wir eben auch unser Sexualleben stylen. Ist Sex nicht mittlerweile eine Lifestylefrage geworden? Sind wir alle knallharte Sex-Performer?*
von Schirach: Nein, eben nicht. Dann kommt der romantische Kitsch und ganz Europa schaut die Prinzenhochzeit. Die Übersexualisierung und Inszenierung der eigenen Begehrenswürdigkeit ist eine Rechnung, die wir nicht einlösen können. Man läuft rum wie eine Nutte oder ein Toyboy und reflektiert nicht über das Angebot und das Versprechen, das man durch sein Auftreten macht. Das ist alles verfehlt. Auf der einen Seite wird es immer sexueller und auf der anderen Seite wird alles kitschiger. 35-jährige Frauen, denen Plüschtiere von der Tasche baumeln, Kuschelpartys etc. Da wird einem doch schlecht. Das sind doch Teenagerfantasien und romantischer Kitsch à la Kate und William.
*The European: Führt dieser romantische Disney-Kitsch nicht in die totale Prüderie?*
von Schirach: Natürlich! Man kann diese Schizophrenie ja deutlich sehen. Sie führt in die arrangierte Ehe – die wir für ein Relikt alter Tage hielten. Diese Arrangements treffen die modernen Partnerschaftsagenturen. Dem gegenüber steht die Liebe als Ereignis einer Begegnung. Neulich habe ich für den geschätzten Kollegen "David Baum":http://www.theeuropean.de/david-baum von der „GQ“ an einer Umfrage teilgenommen: „Was finden Frauen an Männern sexy?“ Man hat mir die Ehre erwiesen, es interessant zu finden, was ich dazu zu sagen habe. Und um ehrlich zu sein, kann ich diese Frage gar nicht beantworten. Denn all das, was passiert, wenn ich einen Mann sehe und ihn begehrenswert finde, findet bereits vorher statt. Da macht es „klick“, bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann.
*The European: Ist das eine biochemische Reaktion?*
von Schirach: Vielleicht. Was weiß ich. Aber es gibt einen Moment oder eine Wahrheit der Begegnung, wenn Sie so wollen, der sich nicht vorher sehen lässt und lassen soll. Selbst beim sogenannten Online-Dating, bei dem Suchmasken uns einen passenden Partner ausrechnen wollen, kann man das Risiko der Begegnung nicht ausschalten. Man kann es nicht umgehen.
*The European: Wir versuchen aber, es soweit wie möglich zu reduzieren?*
von Schirach: Das ist eine Lüge, der wir aufsitzen.
*The European: Bevor es eben genannte Lifestyle-Magazine und pseudobiografische Publikationen – wie „Feuchtgebiete“ – gab, war unser erster Bezugspunkt zu dem Thema die Literatur, die künstlerisch anspruchsvolle, nicht bebilderte Auseinandersetzung. Wollen wir uns dem nicht wieder vermehrt zuwenden?*
von Schirach: Ich halte Lifestyle-Magazine für schädlich. Es gibt keinen Inhalt mehr. Wenn ich darin gelesen habe, möchte ich eigentlich nur abnehmen und einkaufen gehen. Es kränkt mich. Und es kränkt auch noch andere für mich, damit ich nicht so alleine bin, in meiner Kränkung. Es soll mich trösten, dass auch Schauspielerin XY einen dicken Hintern hat. Das ist entsetzlich. Ich weiß aber nicht, ob wir zurückgehen können. Wir dürfen auch nicht den Fehler der utopischen Verfehlung machen: Früher war alles besser. Es ist doch gut für den SM-Bauern am Dorf, dass er nicht mehr alleine ist. Ich bin für die Befreiung des Begehrens, wenn es ein Begehren ist, zu dem man sich bekennen möchte. Und dann möchte ich auch nicht zurück zu früher, wo die Literatur nur den Gebildeten und Elitären offenstand. Es scheint mir ein guter Weg zu sein, den Einzelnen zu ermutigen, sich zu bekennen. Und gleichzeitig dem Begehren seine Würde zurückzugeben, indem man es in Erzählungen einbettet, in denen es seine Bedeutung zurückerlangt.
*The European: Also hilft uns die Bildergewalt in den Medien, den eigenen Fetisch zu entdecken und zu befreien?*
von Schirach: Man muss eigenverantwortlich versuchen, die Kluft zwischen den eigenen Vorstellungen und der Realität zu schließen. Man muss sich selbst darum kümmern. Und wenn jemand in dunklere Welten abtauchen möchte, dann mag das sein, davon fühle ich mich nur bedroht, wenn ich keinen Zugang zu meinen eigenen Dunkelheiten habe.
Eigentlich ist zu dem Thema ja schon alles gesagt worden. Es gibt schon alles: Bücher, Filme, Theaterstücke, das Internet als Kompendium all dessen und noch viel mehr. Wir müssen nicht ein Mehr an Informationen schaffen, sondern ein Mehr an Verantwortlichkeit.
*The European: Stichwort Verantwortlichkeit: Ist der Aufklärungsunterricht an deutschen Schulen ausreichend oder muss er mehr Web 2.0 werden? Können Kinder und Jugendliche mit den Bildern, die auf sie einströmen, alleine umgehen oder müssen wir sie an die Hand nehmen?*
von Schirach: Eine schwierige Frage. Wir sollten auf jeden Fall dafür sorgen, dass Gegenwelten bereitgestellt werden. Gefährlich wird es, wenn Kinder und Jugendliche lernen, Lust und Leidenschaft auf Gegenständlichkeiten zu reduzieren. Sich selbst und andere zu Objekten zu machen. Denn das überträgt sich auf alle Lebensräume. Wir müssen die Kinder an das Lebendige erinnern, Empathie und Einsicht fördern als Ausgleich zu der Bildgewalt. Sie unterschätzen aber auch die Medienkompetenz der Kinder. Die finden sich dort teilweise besser zurecht als ihre Eltern.
„Sexualität ist keine Sache, die wir optimieren müssen“
*The European: Wir sind noch mit der „Bravo“ aufgewachsen, das hat damals die Sittenwächter auf die Barrikaden klettern lassen. Ist YouPorn nun die Weiterentwicklung davon? Oder haben wir jeglichen moralischen Maßstab verloren?*
von Schirach: Gute Bildungspolitik versucht einen Beitrag zu leisten zur moralischen Erziehung eines Menschen. Nicht verbieten, sondern gegensteuern. Wir leben in brutalen Bildwelten …
*The European: … die im Zeitalter von Smartphones und Tablet-PCs nicht mehr kontrollierbar scheinen.*
von Schirach: Das ist meine Urkritik an dem pornografischen Blick, der nur Entweder-oder kennt: hot or not. Es geht doch darum, Menschen nicht wie Dinge zu behandeln. Das zu tun bedeutet, uns in einen Vergleich mit anderen Körperobjekten zu setzen und dann abzuwägen, ob wir gut genug sind oder nicht. Sexualität wie eine Sache zu behandeln, die wir optimieren müssen. Mein Gegenüber wie ein Objekt zu behandeln, das in meinen Lifestyle passt oder nicht. Und somit letztlich genauso austauschbar wird wie ein Gegenstand.
*The European: Kehren wir in die Welt der Erwachsenen zurück: brave Beziehung oder gestyltes Sexualleben. Entweder oder?*
von Schirach: Das sind so Dichotomien – im echten Leben ist das doch alles viel schmutziger. Das ist wieder so ein Lifestyle-Magazin-Phänomen: Um Sachen zu verkaufen, müssen die Medien klare Inhalte schaffen. Das Leben ist doch viel unklarer – es geht darum, diese Unklarheit auszuhalten.
*The European: Neue Formen des Zusammenlebens: Verschließen wir die Augen vor einer Entwicklung, die längst angefangen hat?*
von Schirach: Ich denke, wir begreifen langsam, dass es um Zuneigung und Treue geht, weniger um Labels. Die klassische Kleinfamilie gibt es doch eh kaum noch.
„Wir sollten uns die Frage nach dem Zusammenleben stellen“
*The European: Das erinnert mich jetzt an eine Werbung der „Berliner Morgenpost“, auf der ein lesbisches Paar mit Kind zu sehen ist.*
von Schirach: Als die Schriftstellerin Brigitte Kronauer von der Presse besucht wurde, ließ man in einem Nebensatz fallen, dass sie in einem Haushalt mit zwei Männern lebe. Warum nicht? Ich glaube, wir sollten uns weniger die Frage nach der Familie, sondern nach dem Zusammenleben stellen. Wie möchten wir zusammenleben? Welche Kompromisse gehen wir ein? Halten wir die Nähe aus?
*The European: Da bietet doch eine Metropole wie Berlin viele Möglichkeiten, dieser Nähe zu entkommen. Schlüpfen wir als Zugezogene in der Großstadt nicht manchmal freiwillig in neue Rollen, um uns vollkommen entwurzelt auszutoben? Ihr Buch "„Tanz um die Lust“":http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=258306 beschreibt unter anderem das Berliner Nacht- und Singleleben.*
von Schirach: _(lacht)_ Da war ich ja noch ganz klein. Aber zu Ihrer Frage: Auf dumme Gedanken bringen wir uns nur selbst; das sind alles Ausreden. Ich finde die Vorstellung total peinlich, zu Hause bei Mami und Papi das brave Mädchen zu spielen und dann in der Stadt die Sau rauszulassen. Gegen Ende meines Buches geht es darum, dass Liebe und Freundschaft helfen, sich zu erinnern, wer wir sind und wo wir stehen. Berlin ist eine Stadt, die einen mit der Frage konfrontiert: Wer bist du und was willst du? Solange man jung ist, kann man auf diese Frage immer neue Antworten geben, aber wenn man älter wird, möchte man die Antwort, für die man sich entschieden hat, eigentlich vertiefen.
*The European: Ihre Antwort – so schön sie auf den ersten Blick scheint – fällt dann aber etwas altmodisch, um nicht zu sagen „kitschig“ aus …*
von Schirach: Das ist das, was bleibt. Was von Bedeutung ist. Ich finde diese ganzen Geschichten und Storys über sexuelle Abenteuer endlos langweilig – wenn sie nur sich selbst genügen.
*The European: Die Charlotte-Roche-Leser finden das aber nicht so langweilig.*
von Schirach: Jeder muss das für sich entscheiden. Ich möchte eigentlich von diesen exhibitionistischen Trivialitäten verschont bleiben.
*The European: Wie haben Sie den Medienrummel um die drei jüngsten Sex-Skandale empfunden: DSK, Kachelmann und Assange. Was sagen uns diese drei Mediendramen über den öffentlichen Sexdiskurs?*
von Schirach: Diese öffentlichen Spektakel sind an mir vorbeigerauscht. Als Thema eines öffentlichen Diskurses fand ich das einfach nur furchtbar.
*The European: Haben Sie als Frau nicht mit den vermeintlichen Vergewaltigungsopfern sympathisiert?*
von Schirach: Ich wollte mich da geistig nicht einlassen. Interessanter ist der tatsächliche antifeministische Backlash. Systematische Vergewaltigungen in Kriegsgebieten, Sextourismus und frauenfeindliche Menschenbilder und Arbeitswelten sollten im Mittelpunkt öffentlicher Erregung stehen. Nicht dieser Kachelmann-Bullshit. Das sind doch Peanuts. Ich werde nicht müde werden zu betonen, dass Frauen auf der Hut sein sollten. Der Witz könnte auf ihre Kosten gehen. Auf unsere Kosten.
„Der Widerstand fängt beim Widerstand gegen die Bilder an“
*The European: Eine Prognose: Werden wir in Zukunft noch stärker - durch neue Medien wie das Internet begünstigt - einer krassen Bildergewalt ausgesetzt sein? Wie groß ist die Gefahr, uns von der Wirklichkeit unserer Sexualität zu entfernen?*
von Schirach: Der Mensch ist das unbestimmte Tier. Die Fortpflanzung kann es alleine nicht gewesen sein, klar. Dieses Identitätsproblem scheint mir dieser Tage durch den Terror der Sichtbarkeit gelöst zu werden. Alles wird fotografiert. Die Lust wird ausgeleuchtet. Mein Begehren ist ja eigentlich unsichtbar, denn dabei handelt sich nicht um das Anschwellen eines bestimmten Geschlechtsorgans, sondern um eine Zuwendung zu einem anderen Menschen. "Über Gefühle kann man aber keine Pornos drehen":http://www.theeuropean.de/cindy-gallop/7337-pornographie-und-gesellschaft. Deshalb hat die Pornoindustrie Konventionen entwickelt, das Unsichtbare, also Lust, Begehren, sichtbar zu machen. Es geht nicht mehr darum, wie etwas ist. Sondern wie etwas aussieht. Diesem Trend begegnen wir dann wieder in der Werbung oder auf Facebook. Wir werden sowieso immer medialer; das hat sich in der jüngsten Vergangenheit durch das Internet verstärkt und wird sich auch noch weiterhin verstärken. Man könnte auch sagen: Man ist umso erfolgreicher, umso mehr man sich bebildern kann. Irgendwann kommt dann aber eine schreckliche Lüge ins Spiel, über die wir unweigerlich stolpern müssen. Denn ich bin nicht mein Bild. Und ich bin auch nicht meine Sexiness oder Hotness oder was auch immer. Der Widerstand fängt beim Widerstand gegen die Bilder an. Wir müssen unser Sexualleben wieder aus der Bilderwelt zurückerobern.