Europa hat gewählt
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Wie hat Russland auf die Europawahl reagiert? In den russischen Medien, bei russischen Experten und Politikern fand sie recht großes Interesse.

Bei den fünften Primakow-Lesungen, einem jährlich stattfindenden und inzwischen fest etablierten Expertenforum in Moskau mit Teilnahme hochrangiger russischer Politiker, waren auch nach gut zwei Wochen die Wahlen zum Europäischen Parlament noch ein vieldiskutiertes Thema. Die einen betonten die Stimmengewinne der Euroskeptiker und Rechtsextremen, die anderen hoben die Erfolge der Grünen und Liberalen hervor:
Der Vorsitzende des Präsidiums des russischen Rats für Außen- und Verteidigungspolitik, Fjodor Lukjanow, bezeichnete den Erfolg der Populisten als „ganz normale Entwicklung“, die nur in Europa überbetont werde. Die europäischen Demokratien seien stark genug, um diese Tendenz auszuhalten.
Lukjanow erstaunte darüber hinaus manche Forumsteilnehmer mit der Feststellung, dass aus seiner Sicht die grünen Parteien „reine Populisten“ seien, die ausschließlich über Klimawandel sprächen und keine kohärente Wirtschaftspolitik verfolgen würden. Was bei Wählern populistischer Parteien gut ankomme, so Lukjanow, seien klare und unmissverständliche Ansagen, vorzugsweise zugespitzt auf ein einziges Wahlkampfthema, das ihnen besonders wichtig sei. Solche Ansagen bekämen sie von den grünen Parteien in Europa zum Thema Klimaschutz genauso angeboten wie von Euroskeptikern und Rechtsextremen etwa zum Thema Migration. Unwidersprochen blieb Lukjanows Aussage indes nicht: Der langjährige polnische Präsident Aleksander Kwasniewski (1995 bis 2005), seinerseits Sozialdemokrat, lobte die grünen Parteien in Europa für ihren „frischen und intelligenten Ansatz“ bei der Lösung eines der Kernprobleme der heutigen Zeit, des Klimaschutzes. Populistische Tendenzen seien darüber hinaus in allen politischen Parteien vorhanden.
Meinungen von Regierungsvertretern
Bereits unmittelbar nach der Europawahl hatten sich Regierungsvertreter wie der stellvertretende russische Außenminister Alexander Grushko zu deren Ergebnissen geäußert. Grushko hatte betont, dass sich das Kräfteverhältnis im Europäischen Parlament geändert habe. So hätten diejenigen Parteien Stimmengewinne erzielt, die üblicherweise nicht zum politischen Mainstream gezählt würden. Unabhängig davon sei das russische Außenministerium zu einem Dialog auf Augenhöhe mit Europa bereit, so Grushko.
Weniger diplomatisch äußerte sich Anton Morosow, Mitglied des Ausschusses für internationale Angelegenheiten der Staatsduma. Der Abgeordnete der rechtspopulistischen Schirinowski-Partei LDPR führte die Stimmenverluste der beiden führenden europäischen Parteien EVP (Europäische Volkspartei) und Sozialdemokraten darauf zurück, dass sie nicht in der Lage seien, die aktuellen Herausforderungen in Europa zu bewältigen. Dazu zählte Morosow zuvorderst die Migrationskrise, die noch längst nicht überwunden sei. Solange es nicht zu radikalen Änderungen in der europäischen Migrationspolitik komme, werde die Popularität der rechten Parteien weiter zunehmen, so Morosows angesichts seiner politischen Herkunft wenig überraschende Schlussfolgerung.
Die Europawahl in den Medien
Schon vor der Europawahl hatten russische Medien eigene Maßstäbe für den Erfolg der EU-kritischen und rechtsextremen Parteien festgelegt. So könne man laut der Onlinezeitung Vzglyad ab einer Mindestzahl von insgesamt 150 Abgeordneten für die Fraktionen ENF (Europa der Nationen und der Freiheit), EFDD (Europa der Freiheit und der direkten Demokratie) und EKR (Europäische Konservative und Reformer) von einem Erfolg sprechen - ein Wert, der deutlich übertroffen wurde. Dass die drei genannten Fraktionen bereits in der vorangegangenen Wahlperiode zusammen mehr als 150 Abgeordnete gestellt hatten, deutet allerdings darauf hin, dass diese Messlatte bewusst niedrig angesetzt war. Und den Hinweis, dass Euroskeptiker und Rechtsextreme bei der nächsten Europawahl im Jahr 2024 zur wichtigsten europäischen Kraft werden könnten, könnte man mit einigem Recht als äußerst gewagte Prognose bezeichnen.
Einschätzung von Maxim Samorukow
Die aus russischer Sicht vielleicht interessanteste Einschätzung der Wahlergebnisse zum Europäischen Parlament trug der russische Mittel- und Osteuropaexperte und Carnegie-Analyst Maxim Samorukow bei. In einem Beitrag für die Tageszeitung Wedomosti wies er darauf hin, dass die wichtigsten Regierungsparteien der Visegrád-Staaten womöglich bald nicht mehr gestalterisch an den Prozessen der Entscheidungsfindung im Europäischen Parlament beteiligt sein würden, obwohl sie bei der Europawahl teils sehr gut abgeschnitten hätten. Im Falle der ungarischen Partei Fidesz und der rumänischen Sozialisten sei der Schritt von der bereits erfolgten Suspendierung der Mitgliedschaft zum endgültigen Ausschluss aus der EVP bzw. der sozialdemokratischen Fraktion „wegen mangelnder Loyalität“ europäischen Werten gegenüber nicht mehr weit, so Samorukow. Die polnische Regierungspartei PiS habe schon bisher der euroskeptischen EKR-Fraktion und die tschechische „ANO 2011“ der liberalen ALDE-Fraktion angehört. Damit seien beide Parteien nicht Teil einer der beiden großen Fraktionen, welche die Entscheidungs- und Kompromissfindung im Europäischen Parlament bisher dominiert hätten.
In der Konsequenz sieht Samorukow im östlichen Teil der Europäischen Union „keine großen und einflussreichen Verbündeten“ mehr für Brüssel. Vielmehr löse die EU vor allem die Probleme der westlichen Mitgliedstaaten und vernachlässige die Probleme der östlichen EU-Mitglieder, was dort wiederum die Euroskeptiker und Populisten noch weiter stärke. Was Samorukow nicht erwähnt ist, dass EVP und Sozialdemokraten im neugewählten Europäischen Parlament nicht mehr über eine gemeinsame Mehrheit verfügen und folglich deutlich mehr auf andere Fraktionen werden zugehen müssen als bisher. Außerdem neigt er dazu, die Bedeutung des Europäischen Parlaments im Vergleich zu anderen EU-Institutionen überzubewerten, da das Parlament bisher innerhalb des Institutionengefüges der EU die einzige relevante Bühne der Extremisten darstellt. Diese Überbewertung ist angesichts der spürbaren Sympathie vieler russischer Beobachter für die Erfolge von Euroskeptikern und rechtsextremen Parteien bei der Europawahl allerdings nicht allzu überraschend.
Diese Sympathie wird besonders deutlich in einem Kommentar des Programmdirektors des internationalen Diskussionsklubs Valdai, Timofei Bordatschow, für das Regierungsblatt Rossijskaja Gaseta. Falls im Europäischen Parlament eine große Fraktion rechtsgerichteter Parteien gebildet werden sollte, könne die EU nach Einschätzung Bordatschows zu einem flexibleren Partner als bisher werden, was für Russland nur positiv sei.
In dasselbe Horn stieß die Komsomolskaja Prawda, die besonders durch den Erfolg Le Pens die „Freunde Russlands“ gestärkt sieht.
Die Tageszeitung Wedomosti berichtete, dass die Regierungsparteien in den größten EU-Ländern und speziell in Deutschland und Frankreich schlechtere Ergebnisse erzielt hätten als erwartet.
Überhaupt wiesen fast alle großen russischen Zeitungen und Nachrichtenportale in den Tagen nach der Europawahl darauf hin, dass Europa zwar unter Kontrolle der traditionellen Parteien bleibe, die Rechtspopulisten ihre Position aber deutlich gestärkt hätten.
Wie wird es weitergehen?
Welcher Eindruck von den Wahlen zum Europäischen Parlament wird nun in Russland bleiben? Grundsätzlich positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass die Europawahl in den russischen Medien und bei russischen Experten ein großes Echo gefunden hat. In Russland, wo die bilateralen Beziehungen zu einzelnen EU-Mitgliedstaaten häufig als wichtiger erachtet werden als das Verhältnis zur EU, scheint ein Bewusstseinswandel eingesetzt zu haben, der den Beziehungen zur Europäischen Union größeres Gewicht einräumt. Zugleich ist auch russischen Entscheidungsträgern klar, dass nicht die Populisten, sondern die traditionellen europäischen Parteien die primären Ansprechpartner für konstruktive und fruchtbare Gespräche mit der EU bleiben werden. Daran werden auch die guten russischen Kontakte zu Marine Le Pen, Matteo Salvini und anderen europäischen Populisten nichts ändern.
Quelle: Hanns-Seidel-Stiftung