„Fickkultur muss bleiben“
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In Braunschweig wird eine heuchlerische Debatte ums Rotlichtmilieu geführt. Derweil gibt es in diesem Land aber ein viel größeres Problem mit der Prostitution.

Nun haben wir es schwarz auf weiß: Bei Prostituierten in Braunschweig handelt es sich „um Ich-AGs, die entsprechend besteuert werden. Sie können sich sozialversichern. Sie haben Anspruch, in der AOK zu sein. Das sind alles große Unterschiede zur Vergangenheit. Den klassischen Zuhälter gibt es heute nicht mehr.“ So zumindest formuliert es Kripo-Chef Ulf Küch "im Interview mit seiner örtlichen Zeitung":http://www.braunschweiger-zeitung.de/lokales/Braunschweig/die-polizei-kann-mit-der-bruchstrasse-gut-leben-id1241755.html. Und er meint damit jene „öffentliche“ Prostitution, die in einer der architektonisch schönsten bundesdeutschen Innenstadt-Straßen, der durch Stahltore abgetrennten Braunschweiger Bruchstraße, stattfindet. Er unterscheidet „zwei Formen von Prostitution (…) Zum einen die Prostitution, die in der Öffentlichkeit stattfindet – wie in der Bruchstraße. Und dann Prostitution, die verborgen von den Blicken der Öffentlichkeit stattfindet – das ist die Wohnungs- oder Straßenprostitution, wie wir sie in umliegenden Landkreisen finden, zum Beispiel in Wohnmobilen an der Straße.“
Freier in Privatwohnungen
Das sind angesichts der aktuellen bundesweiten Debatte um Zwangsprostitution bemerkenswert offene Aussagen von ziemlich hellsichtigen Braunschweiger Beamten. Gestandene Polizistinnen und Polizisten, die im alltäglichen Kampf für Recht und Ordnung ein hohes Maß an Kompetenz gesammelt haben. Cordula Müller, Leiterin der Polizeiinspektion Braunschweig, geht sogar so weit in einer ihrer ungeschminkten Einschätzungen, den Traditionspuff als „Schutzraum für die dort arbeitenden Frauen“ zu bezeichnen. Gut so. Die örtliche Zeitung hatte sich hingegen ein paar Wochen lang geziert, diesen wichtigen Kontrapunkt zuzulassen. Denn Gegenwind bekam sie von einer Interessengemeinschaft, der jede Menge Braunschweiger Innenstadt-Unternehmer angehören, so auch das Pressehaus der Zeitung selbst und sogar die Stadt Braunschweig. Dieser sogenannte „Arbeitsausschuss Innenstadt Braunschweig e. V.“, kurz AAI, hatte nämlich Mitte des Jahres vorgelegt und öffentlich gefordert: „Öffnet die Tore der Bruchstraße“. Klar, die Intention dahinter war so albern wie durchsichtig: Zunächst behauptete man nämlich, das „Schanzenviertel in Hamburg oder der Prenzlauer Berg in Berlin sind die großen Vorbilder für das Friedrich-Wilhelm-Viertel in Braunschweig“. Zusätzlich legte man einen „Masterplan“ vor – herrje, darunter macht man es heutzutage wirklich nicht mehr – der u.a. Folgendes vorschlug: bq. "„Nach einer Öffnung der Eisentore, die die Straße gegenwärtig abschotten, sollten sich Cafés, Restaurants, Bars, aber auch klassische Nachtclubs und Diskotheken ansiedeln. Das neue Miteinander von Gastronomie, Handel und Kreativen könnte der Bruchstraße sowie dem gesamten Kultviertel zusätzlichen Charme verleihen.“":http://www.aai-bs.de/front_content.php?idcat=2&idart=165 Ah ja. Ein Masterplan also, der eine Verlagerung der Prostitution in Randbezirke, anonyme Wohnungsprostitution und Straßenstrich zur Folge hätte? Einschläge Internetangebote weisen schon heute Dutzende solcher Dunkelrot-Häuser mitten in Wohngebieten in und um Braunschweig nach. Häuser, in denen Freier an Kindergummistiefeln vorbei, also an Familienwohnungen, in die oberen Stockwerke schleichen, um dort mit Damen, vorwiegend aus dem östlichen Europa, Verkehr gegen Geld zu erhalten. Huren beispielsweise aus Rumänien, die hier nur wenige Wochen verbleiben und dann weiterziehen oder weitergereicht werden in die nächsten Städte und Wohngebiete. Polizeilich schwer zu kontrollieren. Anonym und oft mit Hardcore-Angeboten – entsprechende Internetanzeigen "scheuen da keine Offenheit":http://www.braunschweigladies.de/ – mit sexuellen Handlungen, die mitunter weit über jene Angebote der Bruchstraße hinausgehen, zu denen die „Ich-AGs“ dort bereit sind. Bruchstraßen-Angebote aber auch, die den Freiern dort anscheinend so weit ausreichen, dass sich der Fanblock der Erstliga-Mannschaft der Eintracht Braunschweig bei einem Bundesligaspiel und nach Bekanntwerden dieses milchmädchigen AAI-Masterplans veranlasst sah, im Stadion und hinüber zu den Logenplätzen und vor den SKY-Kameras groß zu flaggen: „Nutten nicht vertreiben – Fickkultur muss bleiben“.#Fickkultur muss bleiben - Was'n das @EintrachtBSNews ? #EBSFCN @Tamara_GLUBB pic.twitter.com/NwS6Y8TrRf
— FANKULTUR.COM (@fankulturcom) September 15, 2013
Aber die Sache wird noch interessanter: So schreibt der AAI, deren lauteste Wortführer – natürlich! – Menschen sind, die u.a. im Viertel z.B. Apotheken und Parkhäuser betreiben, billige Mieten oder Grundstückspreise bezahlen und nun wohl seit Jahren auf eine lohnenswerte Aufwertung ihres Grunds und Bodens hoffen, sich aber von der Anwesenheit des jahrhundertealten Puffs in ihren Rendite-Hoffnungen enttäuscht sehen – die schreiben also: „Das Quartier, jahrzehntelang eine vernachlässigte Innenstadt-Randlage, hat durch die Initiative und die daraus resultierende attraktive Ansammlung von Gastronomie und Szenebars eine erhebliche Neubelebung erfahren.“ Das ist dann schon eine ziemlich dreiste Oberschlau-Frechheit. Da will man sich dann also noch eine Gentrifizierung – oder positiver: die Entstehung eines Kultviertels – auf die eigene Fahne schreiben, die Studenten, Künstler und junge Unternehmer in Braunschweig jahrzehntelang hart und gegen viele Widerstände erarbeitet haben. Diese jungen Wilden, Konzertveranstalter, Szenewirte und Kunstprojektler, hatten sich mit Bruchstraßen-Puff, mit Huren, Herren und Freiern arrangiert und einen kulturellen Raum geschaffen, der nun Apothekern, Maklern und Parkhausbetreibern auf einmal so wertvoll erscheint, dass sie glauben, offensiv für ihre eigenen Interessen vorgehen zu können. Na gut, mit der wohl zunächst eingeplanten Unterstützung von Stadt und Pressehaus in den eigenen Reihen keine so aussichtslose Offensive. Wenn da nun nicht diese Polizistinnen und Polizisten wären, die ihr Veto eingelegt haben gegen diese dann doch allzu offensichtliche Abschöpfung von – nennen wir es ruhig mal so – Gentrifizierungs-Gewinnern.