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> Politische Unruhen in Ägypten

Der Murschid vom Mursi

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Ägypten droht die Spaltung – denn die Einflüsterer des Präsidenten erweisen sich als politische Betonköpfe. Jetzt kommen für das Land nur noch zwei Szenarien in Betracht.

The European

„Ein Ja zur Verfassung bedeutet Stabilität!“ So röhrt es aus Lautsprechern, so ist auf fünf Meter langen Transparenten zu lesen. Die Moslembrüder sind aufmarschiert, bärtig und grimmig und zu vielem entschlossen zum Beispiel den nicht weit entfernten Palast ihres Präsidenten zu verteidigen. Ein paar tausend sind gekommen. Alle haben nur ein Ziel, ihre Verfassung muss auch auf den letzten Metern dieses Kampfes gegen die Liberalen verteidigt, durchgeboxt und dann an den beiden Wahlsamstagen über die Ziellinie gebracht werden. Argumente der Gegner machen sie nieder. Ein Redner dröhnt: „Wer gegen die Verfassung ist, der ist gegen den Islam.“ Die Moslembrüder wissen, solche Argumente ziehen bei der Mehrheit der frommen Bevölkerung; mit solchen Sprüchen haben sie letztes Jahr schon mal ein Verfassungsreferendum gewonnen. Es ist eine Woche vor der nächsten Volksabstimmung, diesmal über Ägyptens an der Sharia entlang geschriebenen Islamistenverfassung, die von Moslembrüdern und Salafisten fast im Alleingang formuliert wurde.

Das Land ist zerrissen
Knapp drei Kilometer entfernt demonstrieren die Mursigegner. Dass es in jener Nacht nicht wieder zu Gewaltexzessen kommt zwischen den tiefverfeindeten Parteien wie eine Woche zuvor, grenzt schon an ein Wunder. Das Land ist zerrissen. Genauso wie das Land ist auch die Regierung Mursi gespalten, erklärt mir einer, der bis vor ein paar Tagen noch Mursi politisch beraten hat. Mursis Palast sei ein Spiegelbild der Gesellschaft. Auf der einen Seite gäbe es die Betonfraktion der Muslimbrüder, Mursis Einflüsterer aus der Zentrale der Islamistenbewegung. Auf der anderen die Fraktion der liberalen Berater, wie er selber einer war, nachdenklich zwar aber kaum mit Wirkung auf den Präsidenten. Bislang jedenfalls habe im Palast immer der Beton gesiegt. Zum Beispiel an jenem 22. November, als Mursi seine berüchtigten Verfassungsdekrete verkündete, um mit ihrer Hilfe die Justiz zu entmachten und nach der ganzen Herrschaft zu greifen. Alle gemäßigten Berater hätten erst hinterher von der Entscheidung erfahren, dann aber seien sie Sturm gegen diese Ermächtigungsdekrete gelaufen. Sie warnten Mursi: „Das Land wird sich spalten. Die Opposition und die Moslembrüder werden ihre Anhänger mobilisieren. Die werden sich Straßenschlachten liefern.” Genauso kam es dann auch. Neun Menschen starben bei den Ausschreitungen. Im Palast aber hatten mal wieder Mursis Muslimbrüder die Oberhand.
Der Beton ist hart
Selbst sein Stellvertreter, Vizepräsident Mahmut Mekki, konnte ihn nicht davon abbringen, obwohl auch er ahnte, was auf das Land in den nächsten Tagen zukommen wird. Der Beton war härter als die Warnungen und Mursi starrköpfig beratungsresistent, obwohl mein Gesprächspartner ihn als jemanden beschreibt, der zuhört: bq. „Doch was nützt es, wenn einer höflich zuhört, und hinterher stellt sich heraus, dass seine Entscheidungen von den Argumenten der Berater überhaupt nicht beeinflusst werden?“ Mursi scheut noch nicht einmal davor zurück, seinen Vizepräsidenten bloßzustellen. Der hatte am 7.12. überraschend verkündet, die Regierung sei bereit das Referendum zu verschieben. Am nächsten Tag wollte von solchen Zugeständnissen keiner mehr etwas wissen. Mursi nahm stattdessen seine Selbstermächtigung zurück, rührte aber nicht am Termin des Referendums. Der Grund, so der ehemalige Politikberater: in der Moslembruderschaft gilt das Führerprinzip. Was der Murschid, der oberste Führer, anordnet kann Mursi nicht aufheben. Strikter Gehorsam ist Gesetz bei den Brüdern. Und dem Zentralrat der Moslembrüder um den obersten Führer Mohamed Badi’ ist die von der Scharia geprägte Verfassung wichtiger als die Dekrete, die er leicht opfern konnte. „Der Einfluss der Moslembrüder auf die Regierung ist sehr stark“, so der Ex-Berater der wegen dieser nicht kontrollierbaren Macht seinen Posten aufgab. Genauso wie inzwischen acht andere Berater. Kamal al Helbawy, ein altgedienter Moslembruder, der im vergangenen Jahr der Bruderschaft enttäuscht den Rücken gekehrt hat, bringt diese Führerprinzip auf die einfache Formel: „Wenn Du nicht gehorchen kannst, dann kannst Du nicht Mitglied sein.“ Die Bruderschaft vergleicht der 73jährige mit einer stalinistischen Partei, die Abweichungen von der Parteilinie hart bestraft. „Frauenthemen zum Beispiel zu diskutieren, ist unmöglich bei den Moslembrüdern, selbst heute noch“, sagt er. Ausgetreten war der frühere Sprecher der Muslimbrüder in Europa vor einem Jahr. Nach 30 Jahren Mitgliedschaft. Ihr opportunistischer Kurs habe ihn enttäuscht. Die Moslembrüder hätten zu eng mit dem Obersten Militärrat gekungelt und würden lieber Dissidenten wie den späteren Präsidentschaftskandidaten Abdel Moneim Abu Fotouh ausschließen als sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Die Muslimbrüder sind gekommen, um zu bleiben
Ist Mohamed Moursi nun tatsächlich dieser Revolutionär der ersten Stunde, für den er sich ausgibt? Immerhin hatte er seine Sondervollmachten „Verfassungsdekrete zum Schutz der Revolution“ genannt. Reiner Hohn, meint der 38 Jahre alt Abdel Galil al Sharibi: „Mursi war im Januar 2011 gegen die Revolution.“ Abdel Galil war damals noch On-Line-Redakteur der Website der Muslimbruderschaft und hätte gerne positiv über die Ereignisse auf dem Tahrirplatz geschrieben. Doch Mohamed Moursi, damals sein unmittelbarer Vorgesetzter, stoppte ihn. „Wir wissen nicht, was die wollen“, war seine Begründung. Der stellvertretende Vorsitzende der Bruderschaft, Essam al-Arian, nannte sie sogar anfangs Verräter. Kurz nach Mubaraks Rücktritt trat Abd el Galil aus, warnte in Talkshows vor der Macht der Brüder und wurde in den Augen seiner früheren Kollegen so selber zum Verräter. „Sie verbreiteten in meinem Heimatdorf Gerüchte über mich, ich würde Alkohol trinken und sei ein Atheist. Meiner Frau erzählten sie, ich würde regelmäßig zu Prostituierten gehen.“ Kaum einer meiner Gesprächspartner glaubt an einen schnellen Abschied der Muslimbrüder aus Ägyptens Politik. Zehn vielleicht fünfzehn Jahre werden sie wohl an der Macht bleiben. „Für Ägypten gibt es zwei Szenarien“, spekuliert zum Beispiel der ehemalige Politberater: „Entweder geht Ägypten den Weg der Türkei oder den Pakistans. Wenn sie das türkische Modell wollen, dann müssen die Moslembrüder wirtschaftlich erfolgreich sein. Aber jeder weiß, dass es mit der Meinungsfreiheit in der Türkei nicht zum Besten steht. Das Pakistanische Modell aber hieße, starke und politisierte Armee, eine schwache Regierung und ein zerrissenes Land.“
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