Die große Depression der Neurose
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Die Freudianische Psychoanalyse ist tief in unsere narrative Kultur eingedrungen und prägt unsere selbstreflexiven Diskurse. Doch die Krankheitsbegriffe sind dem Trend gefolgt: Heute dominiert die Depression, und der Begriff der Neurose wurde gewissermaßen planiert.

Woody Allens Filme sind altmodisch und modern zugleich - mit ihren so häufig präsentierten Protagonisten, die auf langen Spaziergängen durch Manhattan und an den geselligen, aufgekratzten Abenden in den gediegenen Wohnungen der Upper East Side ihre quälenden Konflikte und ihre rastlose Objekt-Suche besprechen und sich heillos verwickeln. Die Lösungen sind vorläufig, die Klärungen werden auf den nächsten Film vertagt. So erzählt Woody Allen die New Yorker Comédie humaine von Menschen, die Sigmund Freuds Werk auf die eine oder andere Weise in sich aufgenommen haben und mit dessen Konzepten ihr Leben zu leben versuchen - die psychoanalytische Redekur im strapaziösen Alltag der New Yorker. Das kann nicht gut gehen; denn heute ist die Zeit knapp. Aber Woody Allens Filme machen aufmerksam, wie tief die Freudianische Psychoanalyse in unsere narrative Kultur eingedrungen ist und wie sehr sie unsere selbstreflexiven Diskurse geprägt hat. Woody Allens Filme sind leise Hymnen auf diese umstrittene Bastion der Kultur der Nachdenklichkeit, die so quer steht zum Tempo der Moderne, deren aktuelle Prinzipien der Arbeits- und Lebensorganisation Beschleunigung und Verdichtung heißen, und zur Ethik der Moderne mit ihrem hedonistischen Ideal der Individualisierung. Sigmund Freud sah den Erfolg seiner Psychotherapie in der gewonnenen Fähigkeit, das eigene Leiden als ein gesellschaftliches Elend zu relativieren. Heute verspricht die gängige Psychotherapie die Selbsterweiterung und folgt damit der weitverbreiteten aktuellen narzisstischen Fantasie, einmal groß herauszukommen. Die Krankheitsbegriffe sind dem Trend gefolgt und haben ihn expliziert: Freud sah die Krankheit der Neurose, heute dominiert die Depression. Die Neurose ist das Leiden an der Schuld und folgt der Struktur des Gewissenskonflikts. Die Depression ist das Leiden an der Unzulänglichkeit und entwickelt sich im Prozess der wütenden Erschöpfung über die unerreichten Lebenswünsche.