Wir brauchen keine Masterpläne
"Es gibt keinen Grund, in der Flüchtlingspolitik einen anderen Regierungsstil zu pflegen. Wir brauchen auch keine Masterpläne. Wir brauchen gutes Handwerk, damit endlich das umgesetzt werden kann, was wir doch gemeinsam verabredet haben, und die Basis dafür ist der Koalitionsvertrag," kritisiert SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles.

Seit Herbst 2015 wissen wir von den Softwaremanipulationen bei deutschen Diesel-Pkws. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist in diesen Tagen sicherlich nicht falsch, dass wir mit einem hohen Anspruch in dieser Regierung zusammen- arbeiten. Diesen hohen Anspruch kann man sehr schnell ablesen am Titel unseres Koalitionsvertrages: „Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Daran lassen wir uns auch messen. Ich sage Ihnen, lieber Herr Lindner: Die Meseberger Erklärung hat keinesfalls eine Spaltung Europas zur Folge, sondern das ist die Lokomotive, mit der wir den Fortschritt in Europa erreichen werden. Davon bin ich fest überzeugt. Das ist ein neuer Aufbruch für Europa. Auch was die Frage eines neuen Zusammenhalts in diesem Land angeht, hat diese Regierung wirklich viel erreicht: Ab dem 1. Januar 2019 werden wir wieder halbe-halbe machen; bei der Krankenversicherung wird die Parität wiederhergestellt. Das ist eine Entlastung von 7 Milliarden Euro für Beschäftigte und Rentnerinnen und Rentner in diesem Land. Und wir haben ein Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit durchgesetzt. Herr Lindner, wenn Sie hier von Bürokratismus reden, sage ich: Bürokratismus? Um Himmels willen! Es geht hier um Millionen, vor allem Frauen, die endlich wieder eine Chance haben, nicht in der Teilzeit- falle kleben zu bleiben. Wir holen sie raus, sie kriegen anständige Löhne, können Karriere machen und haben auch keine Altersarmut zu fürchten. Wenn Sie das hier als Bürokratismus definieren, demaskieren Sie sich dadurch nur selbst. Das ist der Punkt. Wir haben es endlich geschafft, bei der Pflegeausbildung bundesweit die Schulgeldfreiheit durchzusetzen. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Zentrale Grundgesetzänderungen sind auf den Weg gebracht worden; damit kommen wir zum Thema „neue Dynamik“. Wir haben endlich auf den Weg gebracht, dass das Kooperationsverbot fällt. Ich hoffe sehr, dass Grüne und FDP diesen Weg mitgehen können; denn wir brauchen sie dafür. Das ist ein lohnendes Projekt; denn wir haben tatsächlich einen Stau an der Stelle, den wir endlich auflösen können. Wir brauchen eine Modernisierung der Schulen, und wir brauchen noch mehr öffentlichen Wohnungsbau. Wir haben das Familienentlastungsgesetz beschlossen. Das bedeutet ab dem 1. Juli 2019 10 Euro und bis Ende der Legislatur 25 Euro mehr Kindergeld. Es bleibt netto mehr für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner und Familien. Und es gibt mehr Rechte für Beschäftigte und Verbraucher durch die Einer-für-alle-Klage, die wir auch durchgesetzt haben. Das ist doch ein Mittel, um im Dieselskandal den Verbraucherinnen und Verbrauchern den Rücken zu stärken. Herr Lindner, das Gesetz haben wir schon durch den Bundestag gebracht. Das ist doch nicht Nichthandeln; das können Sie uns hier nicht unterstellen. Also, das war jetzt eigentlich kein schlechter Start in diese Regierung. Leider ist der Regierungsmotor in den letzten Wochen ins Stottern geraten. Anstatt so weiterzumachen, wurden wesentliche weitere Gesetzesvorhaben in den regierungsinternen Abstimmungen verzögert: das Gute-Kita-Gesetz, der soziale Arbeitsmarkt, die gesetzlichen Maßnahmen zum Stopp von existenzbedrohenden Mieterhöhungen. Die SPD-Fraktion erwartet jetzt, dass es bei diesen Themen in den nächsten Monaten vorangeht. In den letzten drei Wochen haben wir hier vor allem Streit und Drohungen erlebt. Es ist gut, dass nun alle Teile der Bundesregierung zur ordentlichen Regierungsarbeit zurückkehren möchten. Wir begrüßen das sehr. Es gibt keinen Grund, in der Flüchtlingspolitik einen anderen Regierungsstil zu pflegen als in all den anderen Punkten, die ich gerade vorgetragen habe. Wir brauchen auch keine Masterpläne. Wir brauchen gutes Handwerk, damit endlich das umgesetzt werden kann, was wir doch gemeinsam verabredet haben, und die Basis dafür ist der Koalitionsvertrag. Ich habe in den letzten Wochen an diesem Ort auch schon gesagt: Seit dem Unterzeichnen des Koalitionsvertrages am 12. März hat sich in der Flüchtlingsfrage keine neue Sachlage ergeben. Wer darüber hinausgehende Vorschläge hat, muss diese vorstellen, begründen und mit dem Koalitionspartner ab- stimmen. Am Beginn eines solchen Prozesses sind wir. Die SPD hat in einem Fünf-Punkte-Plan ihre Position klargemacht: Humanität und Realismus gehen zusammen. Das ist etwas, was wir auch im Regierungsalltag beweisen werden. Unsere Grundsätze lauten – das steht für uns ganz klar fest –: keine nationalen Alleingänge. Rechtsstaatliche Verfahren müssen eingehalten werden. Geschlossene Lager lehnen wir ab. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen – Frau Merkel hat es auch angesprochen –, dass wir endlich zu einer neuen Logik der Zuwanderungspolitik kommen müssen. Wir brauchen ordnende, steuernde Prinzipien, humane Prinzipien. Deswegen ist es wirklich dringend, dass wir endlich ein Einwanderungsgesetz in dieser Regierung auf den Weg bringen. Das hat für uns eine hohe Priorität. Wir sehen selbstverständlich, dass wir auch in vielen anderen Bereichen unserer Regierungspolitik in den nächsten Monaten viel zu tun haben. Wir wollen in Deutschland gerne dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wieder mehr Schwung geben. Es geht darum, demokratisch zu gestalten und sich hier nicht in vermeintliche Sachzwänge zu begeben. Wir werden mit diesem Haushalt, den wir hier heute diskutieren, dafür die richtigen Weichen stellen. Wir wollen einen handlungsfähigen Staat, der nicht nur Recht setzt, sondern auch Recht durchsetzt. Dafür sind – ich sage das in Bezug auf diesen Haushalt – wesentliche Voraussetzungen geschaffen worden. Ehrlich gesagt sagen mir viele Leute: Ja, ja, ihr macht da eure Gesetze. Aber an die hält sich ja keiner. – Deswegen ist es keine Kleinigkeit, dass wir dem Zoll, der gegen die Schwarzarbeit kämpft, der dagegen angeht, wenn der Mindestlohn nicht eingehalten wird, und der gegen Schmuggel und Menschenhandel vorgeht, endlich genügend Stellen zur Verfügung stellen, damit das Recht nicht nur gesetzt, sondern in diesem Land auch durchgesetzt wird. Dafür geht an dieser Stelle mein ausdrücklicher Dank an Olaf Scholz, der das ermöglicht hat. An diesem Haushalt kann man auch sehen, dass wir in den nächsten Monaten ein großes Thema anpacken werden: die Rentenpolitik. Wer sein Leben lang in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt und damit die Renten der älteren Generationen finanziert hat, muss am Ende auch selbst einen Anspruch auf eine auskömmliche Rente haben. Es ist mit dem Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit nicht vereinbar, wenn Menschen ihr Leben lang arbeiten, ihre Rente aber später immer weiter an Wert verliert. Die Kaufkraft der gesetzlichen Rente muss erhalten bleiben, und deswegen sind wir für die Sicherung des Rentenniveaus, und zwar die gesetzliche Absicherung des Rentenniveaus. Wir wollen auch dafür sorgen, dass jemand, der sein ganzes Leben lang Beiträge in die gesetzliche Rente eingezahlt hat, im Alter grundsätzlich ein Einkommen hat, das oberhalb der Grundsicherung liegt. Es ist ein Versprechen der Leistungsgerechtigkeit in unserem Sozialsystem, dass der, der gearbeitet und eingezahlt hat, später mehr hat als jemand, der das, aus welchen Gründen auch immer, nicht getan hat. Das muss aus meiner Sicht auch dringend angepackt werden. Wir werden deswegen in diesen Haushaltsplan viele Milliarden einstellen. Der Bundeszuschuss an die gesetzliche Rentenversicherung steigt in diesem Jahr auf 94 Milliarden Euro, und er wird bis zum Ende der Legislatur auf 110 Milliarden Euro ansteigen. Das ist viel Geld. Das mag manchen in diesem Haus gefallen, manchen nicht. Das soll auch so sein; denn es geht genau da- rum, dass wir eine große Veränderung, die demografische Veränderung unserer Bevölkerung, nicht einfach hin- nehmen und sagen: So ist das halt. Mehr Alte, weniger Junge – dann sinkt halt das Rentenniveau. – Die SPD akzeptiert den Sachzwang eines sinkenden Rentenniveaus nicht; denn es gilt: Es gibt diesen Sachzwang nicht. Es ist eine politische Entscheidung, wie viel uns die Sicherung im Alter wirklich wert ist. Die SPD entscheidet sich dafür, die Renten auf dem heutigen Niveau zu sichern und Altersarmut zu begegnen. Sachzwänge, die wir in dieser Regierung nicht akzeptieren, gibt es aber auch an anderer Stelle. Wir müssen nicht hinnehmen, dass Bildungschancen in unserem Land zwangsläufig ungleich verteilt sind. Wir müssen nicht hinnehmen, dass ländliche Regionen bei der Digitalisierung abgehängt werden. Wir müssen nicht hinnehmen, dass steigende Mieten den Lohnzuwachs, den man hat, auffressen. Deswegen ist dieser Haushalt so gut: Er investiert in Schulen, er investiert in Kitas, er investiert in Straßen und in Eisenbahnen, in den Breitbandausbau, in Umwelt- und Klimaschutz, in sozialen Wohnungsbau, in das Baukindergeld, in Städtebauförderung, in Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Das tun wir. Wir nehmen Sachzwänge nicht hin. Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat. Dieser Haushalt steht für einen handlungsfähigen Staat. Ich möchte ausdrücklich noch einmal aufgreifen, dass es uns sehr wohl wichtig ist, den Umstieg auf eine CO2-arme Wirtschaft im Auge zu haben und voranzutreiben, aber dass wir gleichzeitig den Verlust von Arbeits- plätzen nicht hinnehmen wollen. Deswegen ist in diesem Haushalt ein Topf mit Extramitteln geschaffen worden. Wir wollen den Strukturwandel beispielsweise in der Lausitz so begleiten, dass wir den Leuten am Ende nicht nur ein Ausstiegsdatum für die Braunkohle präsentieren, sondern auch sagen können: Wir haben eure Region nicht hängen lassen. Ihr habt weiterhin eine Zukunft, in der Lausitz und an anderen Stellen. – Das ist der entscheidende Unterschied zu dem, was hier von Einzelnen vorgetragen wird. Ich denke, dass es absolut wichtig ist, in dieser Situation zu betonen: Wir wollen in diesem Land gestalten. Wir nehmen keine Sachzwänge hin. Wir sind bereit, unseren selbstgesetzten Anspruch „Aufbruch, Dynamik und Zusammenhalt“ auch weiterhin mit aller Kraft voranzutreiben.