Berührt
Wer nur grausame Körperstrafen oder gar die Todesstrafe für Straftäter fordert, will in Wahrheit gar keine Verbesserung des Rechtssystems, sondern einzig und alleine Rache.

In meiner letzten "Kolumne":http://www.theeuropean.de/heinrich-schmitz/7621-das-sprachproblem-der-deutschen-justiz spielte eine kleine Zeitungsnotiz aus einer nicht bekannten Zeitung eine Rolle. Ein 20-Jähriger war vom Landgericht Gera zu einer zweijährigen Jugendstrafe wegen 103 Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs und 62 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden. Die Strafverbüßung wurde vom Gericht zur Bewährung ausgesetzt. Seit dem 16.10.2103 wurde dieser Artikel rund 70.000 Mal bei Facebook geteilt und noch häufiger kommentiert. Meistens so (Die Rechtschreibfehler wurden übernommen, die Namen gekürzt): bq. „E.C. da konnte ich kotzen... wegen steuerhinterziehung sitz man jahre lange... und wenn es um kinder geht ist es scheiss egal...und dann heisst es macht doch kinder... ich wurde in solch einem fall definitif selbstjustiz machen und ihm die eier abschiessen... dieser dreck muss entweder lebenslanglich weg gesperrt werden oder auf die todesbank! Das macht mich echt wutend!!!! bq. M.S. Erhängt gehört er! bq. T.R. Kastriert gehängt alles würde ich mit diesem S.....! Ich brauche nur 5min. mit diesem Individuum“ M.S. und T.R. sind übrigens Frauen. Der Hass braucht keine Frauenquote. Einige Kommentatoren bezeichneten das Landgericht Gera als „Paradies für Kinderficker“. Interessanterweise galt diese geharnischte Kritik einem Urteil, dessen Inhalt bis auf die Betroffenen selbst und das Gericht niemand kennt. Das lässt sich – jedenfalls zum Teil – ändern. Auf Nachfrage teilte die Mediensprecherin des Landgerichts Gera, Frau Richterin am Landgericht Andrea Höfs, mir u.a. Folgendes mit: bq. „Der damalige Angeklagte war zum Tatzeitpunkt zwischen 17 und 20 Jahren alt.“ Das bedeutet, dass das Landgericht zwingend Jugendstrafrecht anwenden musste, weil der Angeklagte zu Beginn seiner Taten unter 18 Jahren und damit Jugendlicher war. Der Kritikpunkt, dass ein 20-Jähriger gefälligst hart nach Erwachsenenstrafrecht zu bestrafen wäre, weil er ja auch schon Autofahren und Verträge abschließen könne, erweist sich damit als haltlos. bq. „Er selbst wies erhebliche Entwicklungs- und Reifedefizite auf (psychiatrische Behandlungen im Kindesalter wegen Verhaltensauffälligkeiten; erhebliche Schwierigkeiten in der Schule).“ Dann wäre Jugendstrafrecht sogar richtig gewesen, wenn er bei Begehung der ersten Tat bereits 18 gewesen wäre. Ein Heranwachsender – also ein Mensch zwischen 18 und 20 Jahren – wird dann nach Jugendstrafrecht behandelt, wenn er wegen Entwicklungs- oder Reifeverzögerungen in seiner Persönlichkeit einem Jugendlichen eher gleicht als einem Erwachsenen. Der § 105 JGG regelt die Anwendung von Jugendstrafrecht für Heranwachsende so, dass dieses Anwendung findet, wenn „1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder 2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.“ bq. „Tatopfer waren zwei minderjährige Jungen, zu denen der Angeklagte ein zunächst freundschaftliches Verhältnis pflegte. Zu den Tathandlungen selbst ist zu sagen, dass es sich nicht um ,Vergewaltigungen‘ im klassischen Sinne handelte.“ Genauere Angaben zu den konkreten Taten wollte die Mediensprecherin aus gutem Grund nicht machen. Die Art der Tathandlungen soll zum Schutz der Beteiligten auch nicht näher beschrieben werden. Das ist aus meiner Sicht vollkommen richtig, da ein Urteil in einer Jugendschutzsache nicht dazu dient, die weitere Entwicklung der Opfer und des Täters zu gefährden. Das könnte aber geschehen, wenn die einzelnen Taten in aller Ausführlichkeit in der Öffentlichkeit geschildert würden. Festhalten kann man jedenfalls, dass die Opfer offenbar zu nichts gezwungen wurden, wobei klar ist, dass sie als unter 14-Jährige nicht wirksam in die sexuellen Handlungen einwilligen konnten. Trotzdem ist es für die Beurteilung einer Tat ein immenser Unterschied, ob dem Opfer brutale Gewalt angetan wird, oder ob die Taten gewaltlos ablaufen. bq. „Die Kammer hatte den Angeklagten psychiatrisch begutachten lassen. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass der intellektuell minderbegabte Angeklagte in vollem Umfang schuldfähig war. Die Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB (krankhafte seelische Störung o. ä.) wurden demnach verneint, sodass auch die Anordnung einer Maßregel im Sinne des § 63 StGB nicht zur Diskussion stand.“ Das bedeutet, dass der Angeklagte zwar nicht der Hellste ist, dass er aber jedenfalls kein krankhafter pädosexueller Psychopath ist, von dem weitere Taten zu erwarten wären. bq. „Da der Angeklagte bei einem Teil der Taten noch Jugendlicher war, war zwingend Jugendstrafrecht anzuwenden. Demnach fanden die nach allgemeinem Strafrecht gültigen Strafrahmen keine Anwendung.“ Im Jugendstrafrecht gelten alle Tatbestände des Strafgesetzbuches, nicht aber die damit verbundenen Strafrahmen. Vielmehr muss das Gericht prüfen, ob bei dem Angeklagten entweder „schädliche Neigungen“ oder aber „Schwere der Schuld“ vorliegen. In beiden Fällen ist die einzige im JGG vorgesehene Kriminalstrafe die sogenannte Jugendstrafe, eine Freiheitsstrafe für Jugendliche, die mindestens 6 Monate beträgt. Bei Jugendlichen ist das Höchstmaß zehn Jahre, bei Heranwachsenden kann bei besonderer Schwere der Schuld im Falle eines Mordes auch seit 2012 eine 15-jährige Jugendstrafe verhängt werden. bq. „Bei der eigentlichen Strafzumessung fiel zu Gunsten des Angeklagten erheblich ins Gewicht, dass er bis dato straffrei gelebt und die Tatvorwürfe nicht in Abrede gestellt hat. Mit seinem Geständnis hat er den beiden Geschädigten eine nochmalige Vernehmung und insgesamt eine umfangreiche Beweisaufnahme erspart.“ Gerade bei einem Jugendlichen oder Heranwachsenden muss das Gericht sich Gedanken über die „richtige“ Strafzumessung machen. Es muss eine Strafe finden, die sowohl dem Sühnegedanken als auch dem Erziehungsgedanken gerecht wird. Dazu werden alle Strafschärfungs- und -milderungsgründe herangezogen und gegeneinander abgewogen.