Die neue Berliner Schlaftabletten-Politik
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Angela Merkel hat das Prinzip der "asymmetrische Demobilisierung" zu "höchster Vollendung geführt. Es geht um eine Wahlkampfstrategie, bei der durch das Unterlassen einer Stellungnahme zu kontroversen Themen vermieden wird, die potenziellen Wähler des politischen Gegners zu mobilisieren", schreibt Christian Ude.

Völlig neu und hoffentlich künftig überwindbar ist das Phänomen, dass die Politik selbst, ihre führenden Repräsentanten und ihre Wahlkampfmaschinen, das Wesen des Politischen aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbannen wollen. Unpolitisches Verhalten wird von ihnen nicht nur heimlich geschätzt, weil es ihnen ihre Ruhe lässt, sondern aktiv unterstützt und selber verbreitet, bis hin zur Wahlenthaltung, die man dann hinterher als demokratiefeindlich, gesinnungslos und brandgefährlich brandmarken kann – zutreffend und heuchlerisch zugleich. Wer das für starken Tobak hält, hat sich offenbar noch nicht näher mit dem beschäftigt, was die politische Wissenschaft »asymmetrische Demobilisierung« nennt. Angela Merkel hat das Prinzip nicht erfunden (das soll schon 2006 in Katalonien geschehen sein), aber zu höchster Vollendung geführt. Es geht um eine Wahlkampfstrategie, bei der durch das Unterlassen einer Stellungnahme zu kontroversen Themen vermieden wird, die potenziellen Wähler des politischen Gegners zu mobilisieren! Wenn man dabei nicht gleichzeitig die eigenen Anhänger einschläfert, steigt zumindest der eigene prozentuale Anteil. Man führt sich die Absurdität dieses Wettbewerbsprinzips am besten vor Augen, indem man es in die Welt der Wirtschaft oder des Sports transferiert. Autohersteller würden nicht mehr in Forschung, Entwicklung und Werbung investieren, sondern darauf vertrauen, dass die eigene Passivität bald auch den eingelullten Wettbewerber schwächeln lässt. Und schon steigt der eigene Marktanteil. Dieser Vergleich ist schief, weil nicht der Marktanteil, sondern der eigene Umsatz über Wohl und Wehe des Unternehmens und vor allem den Gewinn entscheidet. Das ist der Punkt: In der Politik ist das anders. Da steht der Gewinn – die Zahl der Mandate – von Anfang an fest, und zwar in höchster Höhe, und nur der Marktanteil spielt eine Rolle bei der Verteilung. Nur unter diesen Bedingungen konnte die Idee der »asymmetrischen Demobilisierung« geboren werden. Oder nehmen wir ein Fußballspiel: Man könnte nicht nur mit der besseren Taktik das Spiel gewinnen, sondern auch, indem man dem gegnerischen Team Schlafmittel in den Kaffee kippt. Auch dieser Vergleich hinkt, weil ja in Zeiten der asymmetrischen Mobilisierung nicht die gegnerische Mannschaft, sondern deren Fangemeinde eingeschläfert wird, die allerdings in der Politik am Wahltag durchaus die entscheidende Rolle spielt! Aber trotzdem: Kann Politik durch Verteilung von Schlaftabletten an die gegnerischen Fans – und sei es auch nur symbolisch – überzeugend und zukunftsfähig werden?