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> Menschenrechtslage in der EU

Vor der eigenen Tür kehren

Historisch ist der Friedensnobelpreis für die EU angemessen. Für die Zukunft muss die Union es allerdings lernen, auch die Menschenrechtsprobleme in den eigenen Mitgliedstaaten anzusprechen.

The European

Das Nobelpreiskomitee hatte gute historische Gründe, der Europäischen Union den Friedensnobelpreis zu verleihen. Europa habe gezeigt, so das Komitee in seiner Begründung, „wie historische Feinde durch gut ausgerichtete Anstrengungen und den Aufbau gegenseitigen Vertrauens enge Partner werden können.“ Mit dem Preis wolle man den Blick auf die „Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens“ lenken, so das Komitee. Doch oft ist der Preis nicht nur für vergangene Verdienste verliehen worden. Er wurde als Ermutigung und Verpflichtung für die Zukunft verstanden. Preisträgern wie Martin Luther King, Desmond Tutu oder Aung San Suu Kyi hat der Preis dabei geholfen, große und anhaltende Fortschritte in ihren Ländern durchzusetzen.

Keine angemessenen Antworten
Was also erwarten wir von der EU in der Zukunft? Was muss die Europäische Union tun, um dieser Verpflichtung gerecht zu werden? Ich kann hier nur für den Bereich der Menschenrechte sprechen. Und da gibt es noch viel Luft nach oben. Die Aussage des Nobelkomitees, die EU habe bisher einen „erfolgreichen Kampf für die Menschenrechte“ geführt, kann ich jedenfalls nicht uneingeschränkt unterschreiben. Die Bilanz ist gemischt. Zum Beispiel spielten zwar in Beitrittsverhandlungen die Menschenrechte immer wieder eine große Rolle und in den Kandidatenländern verbesserte sich daraufhin die Situation. Aber oft ging der Prozess nicht weit genug. Zum Beispiel wird in Kroatien – das nächstes Jahr EU-Mitglied werden soll – noch immer viel zu wenig getan, um die Kriegsverbrechen aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg aufzuklären. Als die EU 2011 grünes Licht für den Beitritt Kroatiens gab, waren noch immer etwa 700 Fälle von Kriegsverbrechen unaufgeklärt. Bei dem jetzigen Tempo der kroatischen Gerichte würde es 30 Jahre dauern, die noch anhängigen Fälle zu bearbeiten. Es sieht im Moment leider nicht danach aus, als würde der Beitritt zur EU daran viel ändern. Im Kosovo kommt die EU mit ihrer Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen kaum voran. Obwohl EULEX seit 2008 im Kosovo arbeitet, mussten sich bisher nur wenige Serben und kaum Kosovo-Albaner, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, vor Gericht verantworten. Die EU muss die Aufklärung und Strafverfolgung von Kriegsverbrechen deshalb endlich zu einer Priorität im Mandat der Mission machen. Im Juni 2012 haben die EU-Außenminister eine beeindruckende Menschenrechtsstrategie für die Außenbeziehungen verabschiedet. Ob diese konsequent umgesetzt wird, ist fraglich. In der Vergangenheit jedenfalls ließen die EU-Staaten allzu leicht Forderungen nach dem Schutz der Menschenrechte fallen, wenn wirtschaftliche oder sicherheitspolitische Interessen im Spiel waren. Ein Beispiel ist Usbekistan. Vor sieben Jahren erschossen Polizisten und Soldaten in der usbekischen Stadt Andischan Hunderte überwiegend friedliche Demonstranten, darunter Frauen und Kinder. Zunächst verurteilte die EU das blutige Vorgehen, forderte eine unabhängige Untersuchung und verhängte Sanktionen. Doch der Ton der EU-Staaten wurde schnell wieder sanfter. Schließlich wurde die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung fallen gelassen und die Sanktionen aufgehoben. Auch die andauernden Berichte von willkürlichen Festnahmen, Folter und unfairen Gerichtsverfahren scheinen die EU-Regierungen kaum mehr zu interessieren – wirtschaftliche Interessen einzelner Mitgliedstaaten scheinen Vorrang zu haben. Die mangelnde Konsequenz in der Außenpolitik ist nicht der einzige Schwachpunkt in der EU-Menschenrechtspolitik. Der EU fällt es schwer, Menschenrechtsprobleme in den eigenen Mitgliedstaaten überhaupt anzusprechen. So ist zwar seit 2009 die EU-Grundrechtecharta in Kraft und die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, starke Anti-Diskriminierungsgesetze zu erlassen. Aber auf die Diskriminierung von Roma in EU-Staaten wie Ungarn und Rumänien, aber auch Italien und Tschechien finden die EU-Institutionen keine angemessene Antwort. Und ist die Flüchtlingspolitik der EU einem Friedensnobelpreisträger angemessen? Europas Abschottungspolitik ist mitverantwortlich dafür, dass allein im Jahr 2011 über 1.500 Menschen im Mittelmeer umgekommen sind. Menschen, die sich in Europa Schutz vor Gewalt, Verfolgung und Not erhofften. Die EU-Staaten sind für ihren Tod mitverantwortlich, weil sie zwar bei der Sicherung der Außengrenzen zusammenarbeiten, aber kaum bei der Seenotrettung im Mittelmeer und der Sicherstellung eines fairen Asylverfahrens.
Kein „Weiter so!“
Gemäß der Dublin-II-Verordnung sind die Grenzstaaten der EU für den überwiegenden Teil der Asylverfahren zuständig, sie kommen dieser Verpflichtung aber oft nicht nach. So schickte Italien über Jahre hinweg Bootsflüchtlinge ohne Prüfung nach Libyen zurück, wo ihnen Haft und Folter drohten, oder ließ sie gleich von Libyen abfangen. Auch in diesem Jahr vereinbarte Italien ein Abkommen mit dem nordafrikanischen Land, das diese Praxis ermöglicht. Malta verzögert die Rettung von Flüchtlingen in Seenot. In Griechenland wird Flüchtlingen der Zugang zu einem fairen Asylverfahren systematisch verwehrt. Gleichzeitig riegelt es seine Landgrenzen zur Türkei ab, wo aktuell Tausende syrische Flüchtlinge ankommen. Außerdem werden Asylsuchende in EU-Ländern wie Griechenland und Ungarn zum Teil für Monate inhaftiert, ohne dass ihnen irgendeine Straftat vorgeworfen wird. Trotzdem hat das Nobelkomitee recht: Die EU hat sich auch Verdienste um den Schutz der Menschenrechte erworben. Aber wenn sie zu Recht in einer Reihe mit Martin Luther King, Desmond Tutu und Aung San Suu Kyi stehen will, dann dürfen sich die EU-Politiker nicht mit einem „Weiter so!“ gegenseitig auf die Schultern klopfen.
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