Was den Einzelnen ausmacht, ist seine Seele
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Über die Entwicklung der menschlichen Person.

Am Hauptbahnhof Frankfurt am Main. Das abgelegte Brautkleid zieht meinen Blick an. Wohin mag die Braut geflohen sein? Gehört das Versprechen zum Restmüll unserer dauerbewegten Gesellschaft? Treue und Beständigkeit riechen nicht gut für den Zeitgenossen. Sie müssen ständig auf Achse sein. Bindung und Heimat stehen dem beruflichen Fortkommen im Weg. Die kommunistische Idee von der Disponibilität des Arbeiters in der vollkommenen Gesellschaft feiert im Kapitalismus fröhliche Urständ. Jeder, so liegt in der Luft, muss auf alles vorbereitet und für alles geschult sein. Es setzt sich die Meinung durch, jeder könne jederzeit in der Arbeit, aber auch im Privatleben neu ansetzen. Euphemistisch wird das dann "Erfahrungen sammeln" genannt. Der "Generation Praktikum" folgt freiwillig-unfreiwillig die "Generation Bachelor". Sie mag in vieles Einblick gewonnen haben. Das jedoch um den Preis, den Überblick verloren zu haben. Die Entwicklung der menschlichen Person erfolgt nicht nach dem Prinzip der russischen Matroschka. Es kommt nicht auf Hüllen an, in die wir uns hineinstecken oder hineinstecken lassen. Was den Einzelnen ausmacht, ist sein Wesen, seine Seele, ist sein Personkern. Diese drei Begriffe ersetzen sich gegenseitig. Immer geht es darum, dass jeder sich selber mitnehmen muss und niemanden und nichts abstreifen kann wie ein altes Kleid. Der Ruf des Breslauers Johannes Scheffler, genannt Angelus Silesius (1624–1674), bringt es auf den Punkt: Mensch, werde wesentlich; / denn wann die Welt vergeht, / So fällt der Zufall weg, / das Wesen, das besteht. Zufall ist hier wörtlich zu verstehen: Der Lehrer, der einen auf die richtige Lernmethode aufmerksam machte; die Nachbarin, die einen hinwies auf Fertigkeiten, die selbst den Eltern verborgen blieben; ein Onlineartikel, der einem die Augen öffnete und Perspektiven erschloss, die man nicht mehr missen mag. Leben ist kein Bäumchen-wechsle-dich-Spiel. Menschsein darf sich nicht darin erschöpfen, trügerischen Bildern von einem glücklichen oder vollkommenen Leben hinterherzujagen. Viele werden dadurch kurzsichtig. Sie setzen auf den schnellen Erfolg. Das große Glück. Die totale Erfahrung. Um all diesem ebenso schnell wieder zu enteilen. Solche Oberflächlichkeit macht nachhaltig unzufrieden. Sie treibt uns vor sich her mit der teuflischen Verlockung, der Ernstfall Leben käme erst später, woanders würde es Besseres zum Leben geben und es könnte auf keinen Fall hier und jetzt zu finden sein. Wie viel Leid kam auf diese Welt, weil Menschen nicht beackerten, was sie hatten, sondern in Traumwelten flohen und dort erringen wollten, was gar nicht zu ihnen passte. Treue zum Beruf, zur Ausbildung, zum Lebenspartner und zum Kind sind in dieser Vorstellungswelt nur lästig.