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Politik > Meinungsfreiheit in der Demokratie

Wer maßt sich an, zu bestimmen, welche Meinung in einer Demokratie wertvoller ist?

Der leichtere Zugang zu Informationen jeder Art und Güte im Internet, hat den Einfluss etablierter Medien reduziert. Auflagen sinken ebenso wie Einschaltquoten, und es fällt wesentlich leichter, sich die Informationen zu suchen, die zu einem passen – etwas, wozu der Mensch grundsätzlich neigt. Der Fall Aiwanger hat das geradezu exemplarisch bloßgelegt. Von Andreas Herteux

Hubert Aiwanger, Bundesvorsitzender der Freien Wähler, nimmt im bayerischen Landtag an einer Sondersitzung zu den Vorwürfen gegen ihn im Zusammenhang mit einem Flugblatt mit antisemitischem Inhalt teil. Auf Antrag von Grünen, SPD und FDP wurde der sogenannten Zwischenausschuss einberufen. | Quelle: Picture Alliance
Hubert Aiwanger, Bundesvorsitzender der Freien Wähler, nimmt im bayerischen Landtag an einer Sondersitzung zu den Vorwürfen gegen ihn im Zusammenhang mit einem Flugblatt mit antisemitischem Inhalt teil. Auf Antrag von Grünen, SPD und FDP wurde der sogenannten Zwischenausschuss einberufen. | Quelle: Picture Alliance

Hubert Aiwanger hat für viele Tagen große Teile der medialen Berichterstattung dominiert und wird wohl ein bleibendes Thema in den bundesdeutschen Medien bleiben. Ein Grund mehr, einen tieferen Blick zu wagen, denn handelt es sich bei der „Flugblattaffäre“  nur um eine weitere spektakuläre Geschichte rund um einen aufsteigenden Politiker, oder ist der Fall Aiwanger vielleicht sogar exemplarisch für unsere Zeit und neue gesellschaftlichen Entwicklungen? Steht das Ganze nicht vielleicht sogar sinnbildlich für eine unbeachtete Wirklichkeit? Was ist zudem inhaltlich von der Diskussion zu halten und welche Perspektiven ergeben sich für die Freien Wähler? Eine Reihe von Fragen, bei denen ich mit dem zweifelsfrei schändlichen Pamphlet aus den 80ern und dem bayerischen Vize-Ministerpräsidenten beginnen will.

Einer, der Hubert Aiwanger lange kennt, ist der der frühere Landes- und Bundesvorsitzende der Freien Wähler Armin Grein. Grein, der als ein Gründervater der Freien Wähler gilt und über den Aiwanger 2018 gesagt hat, dass er ohne ihn heute nicht als Minister dastünde, hat die aktuelle Entwicklung aufmerksam verfolgt und wurde, wen soll es überraschen in den letzten Tagen, vielfach von Medien,  Parteimitglieder und Wählern um seine Einschätzung gebeten.

Erst enttäuscht über den Umgang, später zufrieden mit den Erklärungen

Er mag es auch nicht verhehlen; zu Beginn war Armin Grein, der im Übrigen seit vielen Jahren die Süddeutsche Zeitung abonniert hat und diese grundsätzlich auch schätzt, über den Umgang seines Nachfolgers mit den Presseberichten sehr enttäuscht, denn seiner Ansicht nach hätte Hubert Aiwanger schneller, bereits direkt nach der ersten Anfrage der SZ, reagieren müssen. Es wäre kein ideales  Krisenmanagement gewesen. Die inzwischen abgegebenen Erklärungen hält der heutige Ehrenvorsitzende aber für glaubhaft, nachvollziehbar und vor allem wichtig.

Mag vieles auch lange her sein, schon das politische Amt würde Aufklärung zwingend gebieten. Das wäre geschehen. Aus Sicht von Armin Grein hat sich Aiwanger damit den ungeschriebenen Transparenzpflichten eines Verantwortungsträgers in der Politik gestellt und sie am Ende, mit den 25 Fragen, wenn auch etwas verzögert und holprig, doch gerade noch so erfüllt. Nicht gemeistert, aber geschafft.

Die Entscheidung von  Markus Söder

Einen Rücktrittsgrund sieht Grein nicht und die Entscheidung des Ministerpräsidenten Söder, seinen Nachfolger im Amt zu halten, war für ihn alternativlos, denn die Solidarität bei den Freien Wählern, hätte auch für die CSU schwerwiegende Folgen haben können, die am Ende womöglich ohne aktuellen und künftigen Koalitionspartner dagestanden wäre und sich vielleicht nach der Landtagswahl in einem ungewollten Bündnis mit den Grünen wiedergefunden hätte. Mittel- und langfristig hätte dies wohl auch fatale Folgen für CDU/CSU auf Bundesebene haben können. Grundsätzlich wäre die Entscheidung des Ministerpräsidenten, trotz des medialen Drucks daher alternativlos gewesen.

Der Souverän und sein Votum

Der letzte Gedanke Greins beschäftigt womöglich nicht gerade wenige Wähler, denn man könnte aus ihm auch eine grundlegende Diskussion ableiten, wenn man es denn wollte. Es ist eine altbekannte. Jene, ob die vierte Macht, die Medien, jenseits einer sachlichen Berichterstattung, gleich in welche Richtung, im großen Umfang meinungsbildend kommentieren sollen oder nicht. Zweifelsfreie ein Diskurs, der niemals enden wird und der nun wieder aktuell erscheint.

Wie gewichten?

Eine ähnliche Diskussion ist auch bei der Gewichtung zu finden. Wie schwer wiegen mutmaßliche Vergehen in der Jugend? Was sagen sie über den späteren Menschen aus? Kann es bei widerwärtigen Themen wie Antisemitismus jemals ein Verzeihen geben? Ist der Umgang mit der Krise nicht wichtiger als diese selbst?

Armin Grein, der selbst einst einige Wochen in einem Kibbutz in Israel, einer Kollektivsiedlung mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen, gearbeitet und sich immer wieder für die Begegnung und Aussöhnung zwischen den Völkern engagiert hat, lehnt jede Form des Antisemitismus ab. Das Flugblatt ist für ihn widerlich und abstoßend.  Er ist froh, dass es nicht von seinem Nachfolger verfasst wurde. Doch darf man Hubert Aiwanger eine Entwicklung zustehen? Müsste man im Nachhinein nicht alles hinterfragen?

Keine antisemitischen Verfehlungen als aktiver Politiker

Grein, der sich selbst immer aktiv gegen jede Form der radikalen Unterwanderung bei den Freien Wählern eingesetzt hat, hat das für sich getan. Im Gegensatz zu vielen anderen Beobachtern konnte er seinen Nachfolger viele Jahre lang aus nächster Nähe erleben. Der heutige Ehrenvorsitzende verweist daher auf die gemeinsame Zeit mit Aiwanger, in der es keinerlei Anzeichen einer antisemitischen Gesinnung gegeben hätte. Im Gegenteil eröffneten sich sogar Momente, die nun, viele Jahre später, als Bewährungsprobe verstanden werden könnten: Es war 2009 als den beiden Landesverbänden der Freien Wähler in Bremen und Brandenburg rechte Umtriebe nachgesagt wurden. Auch der Hauch des Antisemitismus spielte dabei eine Rolle und zwang zu einer Entscheidung.  Das Ganze endete mit dem konsequenten Ausschluss der beiden Landesverbände, der auch von Hubert Aiwanger mitgetragen wurde.

Grein hält Hubert Aiwanger für einen Demokraten mit starker ländlicher Prägung, bei dem das Konservative deutlicher im Vordergrund steht. Letzteres gefällt nicht jedem Freien Wähler und doch wäre es eine akzeptable Richtung des demokratischen Spektrums.

Die spezielle Geschichte der Freien Wähler

An dieser Stelle macht es Sinn, einen Hinweis auf die Geschichte der Freien Wähler zu geben. Diese haben ihre Wurzeln in der Kommune. Dort wollten sie gestalten - und zwar ideologiefrei, sachlich sowie pragmatisch. Immer das Nötige und Beste tun, ohne Parteibindung, Ideologien und Vorgaben von oben. So sieht sich der größte Teil der ca. 280.000 organisierten Freien Wähler.

Lange Zeit war es sehr umstritten, ob man überhaupt bei Bezirks- und Landtagswahlen antreten soll und erst 1997 gab es in Bayern eine knappe Mehrheit dafür.  Und es sei nicht verschwiegen; noch immer sind nicht wenige Freie Wähler mit dieser Entscheidung nicht einverstanden.

Armin Grein, der zentrale Mann, war einer von ihnen und hat damals dagegen gestimmt, sich aber dem demokratischen Votum unterworfen und den Prozess vorangetrieben, wenngleich nicht als Partei, sondern als organisierte Wählergemeinschaft – ein Kompromiss, um die Anti-Parteien-Struktur zusammenzuhalten.

Hubert Aiwanger, der erst 2002 zu den Freien Wählern stieß, gelang 2009 die umstrittene Transformation zur Partei, die nun neben den organisierten Verbänden existiert. Es gab Beifall, aber auch Buhrufe. Beides hallt bis heute nach. Und so existieren die Freie Wähler in den Kommunen, die sich primär sachlich-pragmatischen geben und die Partei mit einem liberal-konservativen Profil. Beides ist eng verzahnt, da ihre Kandidaten in der Regel fest vor Ort verankert sind, aber nicht deckungsgleich.

Der rote Faden?

Doch zurück zu Hubert Aiwanger, der zweifellos als Personifizierung der Partei bezeichnet werden kann.  Sind seine Auftritte jetzt auf eine andere Art und Weise zu betrachten? Gibt es eine Kampagne oder nur die Verpflichtung zur Aufklärung? Ist jede Empörung echt oder gelegentlich nur taktisch bedingt?

Armin Grein, der als politischer Pragmatiker gelegentlich mit dem Auftreten seines Nachfolgers hadert und mit Formulierungen wie „die Demokratie zurückholen“, durchaus seine Probleme hat, musste darüber lange nachdenken. Er bemerkt trocken, dass es die Demokratie war, die Aiwanger zu dem gemacht hat, was er heute ist. Das war 2006 so, als Grein seinen Vorsitz altersbedingt aufgab und Hubert Aiwanger überraschend und nicht unumstritten zu seinem Nachfolger gewählt wurde und auch 2018, als er das Ministeramt erhielt.

Trotz der verschiedenen Ansichten über Stilfragen, haben beide aber ein positives Verhältnis. Hubert Aiwanger hat sogar ein Vorwort zu Greins 2023 im Erich von Werner Verlag erschienenen Buch über die Geschichte der Freien Wähler, beigetragen.

In der Summe sieht der Ehrenvorsitzende keinen roten Faden von möglichen Verfehlungen in Jugendtagen zu lauteren, manchmal schrilleren Tönen, die Aiwanger gelegentlich anschlagen würde. Derartige Unterstellungen lehnt er ab, allerdings wäre davon auszugehen, dass diese nun häufiger erfolgen würden. Zumindest im Wahlkampf. Die konsequente Distanzierung von den Vorgängen in Jugendtagen setzt er dabei allerdings voraus, denn Antisemitismus wäre mit einem Engagement bei den Freien Wählern unvereinbar. Dass es allerdings nach 36 Jahren auch Erinnerungslücken geben kann, sei nicht schön, aber nachvollziehbar.

Einschränken wird sich der stellvertretende Ministerpräsident aber nicht. Er könnte es auch nicht, denn das würde nicht seiner politischen und persönlichen Natur entsprechen, mit der er unzweifelhaft große Erfolge errungen hat. Er wäre authentisch, ein hochintelligenter Mann, der von seinem Tun überzeugt ist. Kein Zyniker, keiner der auf Distanz zu den Themen und Menschen geht.

Auch hier thematisiert Grein einen interessante Punkt. Hubert Aiwanger ist erfolgreich, weil er Hubert Aiwanger ist. Ist die Zeit schlicht reif für einen wie ihn? Hierfür lohnt es sich die Wirklichkeit so zu betrachten, wie sie sich zeigt, nicht, wie man sie gerne hätte.

Das Können und der richtige Zeitpunkt

Neben dem unzweifelhaften politischen Talent des Freie-Wähler-Chefs, wie immer man es auch gewichten mag, besitzt er auch etwas, was man nicht erlernen kann, das Glück des Tüchtigen oder, etwas besser ausgedrückt, das des richtigen Zeitpunktes.

Das war bereits 2008 so, als erstmalig der Einzug in den bayerischen Landtag gelang. Bei allem eigenen Geschick, war die Zeit schlicht auch reif, denn einerseits näherte man sich bereits 2003 der Fünf-Prozent-Hürde an, andererseits war die CSU, man erinnere sich an den Rückzug von Edmund Stoiber und das kurzlebige Kabinett Beckstein, in keinem guten Zustand. Dafür aber die jahrelang aufgebauten Strukturen der Freien Wähler.

Die Lücke hatte sich weiter geöffnet und die Politik, im Besonderen die auf Bundesebene, der folgenden Jahre, die immer weniger Wert auf liberale und konservative Positionen legte, gab weitere Räume frei, die politisch unbesetzt blieben.

Und die aktuelle Berichterstattung rund um Hubert Aiwangers Jugendzeit? Auch hier gestaltet es sich ähnlich, denn diese trifft auf eine Gesellschaft, die so individualisiert und zersplittert ist, wie nie zuvor in der Geschichte. Sie ist nicht gespalten, wie es vielfach behauptet wird, das wäre zu einfach und als Erklärungsmuster letztendlich nur das berühmte Opium für das Volk, sie ist erodiert.

Die Gesellschaft hat sich verändert

Tatsächlich hat sich die Gesellschaft in viele kleinere Gesellschaften gespalten, die jeweils  ihre eigenen Vorstellungen von einem richtigen und guten Leben haben. Eigene Normen, individuelle Verhaltensmuster sowie abweichende Wertevorstellungen. Hedonisten haben andere Ziele als Prekäre. Traditionelle oder Sozio-Ökologische präferieren völlig unterschiedliche Lösungen für Probleme. Man nehme hier das Heizungsgesetz, Abschiebungen oder die Gendersprache als Stichworte. Die adaptiv-pragmatische Mitte ist viel flexibler als die alte bürgerliche Welt oder das etablierte Establishment. Ja, es gibt Schnittmengen, aber manche Milieus sind so weit voneinander entfernt, dass der Konsens immer schwieriger zu finden ist. Lebenswirklichkeiten sind es daher, die aufeinandertreffen und Milieukonflikte auslösen, die wiederum zu Milieukämpfen führen können. Hier sind die Ursachen für Spannungen unserer Zeit zu suchen sowie auch zu finden und nicht in einem obsoleten Links-Rechts-Schema. Dies wissen auch die Parteien, wenngleich sie es auch nicht so offen kommunizieren, und so sind in internen Strategiepapieren nicht selten solche Aussagen zu finden:

„Die Adaptiv-Pragmatische Mitte ist ein Kern-Milieu, wenn es um das Gelingen der geplanten gesellschaftlichen Transformation geht. Keine Partei der Ampelkoalition ist in dieser Gruppe überrepräsentiert, gleichzeitig bedarf es ihrer Unterstützung, denn es handelt sich zum einen um ein großes und gleichzeitig um ein zukunftsrelevantes Milieu, das leistungsbereit und anpassungsfähig ist, aber gleichzeitig klare Anforderungen stellt. Diese Bevölkerungsgruppe wirkt einstellungsbildend in andere Milieus hinein (Vorbild für die Unterschicht und die traditionell-konservativen Milieus), weshalb ein positiv konnotierter Wandel ohne die Adaptiv-Pragmatische Mitte nicht von Erfolg gekrönt sein wird. [..]“ Quelle: Bergmann, Knut (Herausgeber), Mehr Fortschritt wagen, Seite 348 ff.

Es gibt keine Gesellschaft mehr, sondern Gesellschaften

Manche Lebenswirklichkeiten schließen sich gelegentlich bei einzelnen Themen zusammen, aber das sind interessensgeleitete und temporäre Koalitionen, kein fester Bund. Es ist eine zerfallende Wirklichkeit, mit dynamischen Individualisierungsfaktoren wie die virtuelle Welt mit ihren verhaltenskapitalistischen Elementen die konsequent Bedürfnisse herausarbeitet, keine homogene. Die Zukunft wird unzweifelhaft immer kleinere Lebenswirklichkeiten schaffen und die Konflikte und Milieukämpfe verschärfen. Wie weit dieser Prozess bereits fortgeschritten ist, muss dabei offenbleiben.

2023 ist nicht 2008

Auf eine derartige Wirklichkeit im Jahre 2023 trifft nun der Fall Hubert Aiwanger und auch an dieser Stelle stimmt ungewollte das Timing , denn diese neue Welt hat es 2008, als das Flugblatt offenbar erstmals ein Thema hätte werden können, noch nicht gegeben. Es wäre schwieriger gewesen, politisch zu überleben, denn auch die Informationsströme wären damals weniger divers gewesen.

Heute sind die Quellen mannigfaltig und erste Umfrageergebnisse bestätigen Erwartbares: Das Instituts Insa ermittelte für Bild am Sonntag, dass 38 Prozent für einen Rücktritt sind, 39 Prozent dagegen und 23 Prozent unentschlossen.

Ob die Befragung vor den Veröffentlichungen der Süddeutschen Zeitung im Hinblick auf die Person Aiwanger ein anderes Ergebnis aufgezeigt hätte, ist sicher ebenfalls diskutierbar. Für manche Milieus war der Politiker vorher bereits unwählbar, für andere immer schon eine Alternative. Das dürfte sich eher verfestigt, denn verändert haben.

Mediale Verschiebungen

Die neue Ära des kollektiven Individualismus hat auch den Einfluss der vierten Macht verändert. Ob man nun schon von Milieumedien sprechen kann, also jene, die nur von einem bestimmten Zielpublikum gelesen, aber zugleich, und das ist neu, von anderen Lebenswirklichkeiten sehr stark abgelehnt werden, darf offenbleiben, aber zumindest eine Untersuchung wäre die Fragestellung durchaus wert. Gleich wie; es ändert nichts daran, dass der leichterer Zugang zu Informationen jeder Art und Güte, den Einfluss etablierter Medien reduziert hat. Auflagen sinken ebenso wie Einschaltquoten und es fällt wesentlich leichter, sich die Informationen zu suchen, die zu einem passen – etwas, wozu der Mensch grundsätzlich neigt.

Wer das nicht möchte, lässt sich schlicht virtuell einbetten. Algorithmen sorgen dann im verhaltenskapitalistischen Kreislauf dafür, dass eine eigene Welt, eine eigene Wirklichkeit entsteht. Es gibt Lebenswirklichkeiten, die lassen sich politisch problemlos auf diese Art und Weise bespielen.

Es macht an dieser Stelle am Ende auch keinen Sinn, über die Qualität diverser Quellen zu sinnieren. Sie existieren und haben den Einfluss der Leitmedien zurückgedrängt. Diese haben, laut aktueller Studien, mit einem erhöhten Vertrauensverlust zu kämpfen. Ein schwieriges Feld und am Ende existieren womöglich nur noch Interessen und Gewichtungen.

Und das bedingt final eine völlig unterschiedliche Wahrnehmung der Causa Aiwanger. Immer aus einem spezifischen Blickwinkel, bei dem bestimmte Dinge relevanter scheinen und andere weniger wichtig erscheinen. Für die einen sind die mutmaßlichen Taten eines Politikers in jungen Jahren das Maß aller Dinge.  Die anderen rücken das Heizungsgesetz in den Mittelpunkt. Oder doch den Bereich Flucht und Migration? Oder das Klima? Nicht jeder handelt aus Überzeugung, mancher aus Kalkül, aber wer maßt es sich an, zu bestimmen, welche Ansicht in einer Demokratie wertvoller ist? Welche Deutung soll absolut und alternativlos sein?

Individuelle Ansichten

Je nach Perspektive, nach eigene Weltbetrachtung, kann am Ende jeder Narrativ in irgendeinem Kontext wahrhaftig werden: Die Mutmaßung der gezielten Kampagne gegen die Freien Wähler, das Narrentum der Jugend. Der angebliche Versuch, die Grünen in die Regierung zu schreiben. Der wichtige Kampf gegen rechte Entwicklungen, der notwendige Feldzug gegen Antisemitismus – es sind in der Regel individualisierte sowie milieubezogene Deutungen von dem, was wirklich wichtig ist und was nur, so schmerzlich es für Menschen mit abweichenden  Meinungen auch sein mag, Randthema.

Die Illusion des großen Konsens zerplatzt

Die große Suggestion von der homogenen Gesellschaft, die sich in den großen Leitfragen einig wäre, ist spätestens am Fall Aiwanger zerschellt und irgendwann wird sich die grundlegende Frage stellen, welcher Grundkonsens für die zersplitterte Wirklichkeit überhaupt noch gelten mag. Der Milieukampf ist längst Realität.

Der FW-Chef muss sich aktuell daher nicht darum kümmern, was jede einzelne Lebenswirklichkeit in Deutschland denkt, gleich wie lautstark sie auch sein mag, sondern sich daran orientieren, was die für ihn relevanten Milieus für akzeptabel halten. Für die neo-ökologischen und das postmateriellen Milieus, die sehr oft grün wählen, sowie ca. 20 Prozent der Bevölkerung stellen, wird der bayerische Wirtschaftsminister immer ein rotes Tuch bleiben.

Das ist für ihn aber nicht relevant, denn er zielt auf die bürgerlichen

Lebenswirklichkeiten ab und diese scheinen eine klare Gewichtung zu haben: 58 Prozent der Deutschen finden die Entscheidung von Markus Söder, Hubert Aiwanger nicht zu entlassen, richtig. In Bayern sind es sogar 72 Prozent.

Was erleben die Wahlkämpfer?

Doch welchen Einfluss hat die Affäre auf den Wahlkampf der Freien Wähler vor Ort? Stehen die Bürger der Partei nun kritischer gegenüber? Sind die Werbenden vor Ort entmutigt?

Anna Stolz, als Kultusstaatssekretärin Mitglied des Kabinetts Söder, erlebt im Gespräch mit Bürgern viel Rückhalt für Hubert Aiwanger und die Freien Wähler. Sie selbst distanziert sich von dem „abscheulichen Flugblatt" maximal, aber betont auch, eine derartige Verdachtsberichterstattung beschädige das Vertrauen der Bürger in die Medien.

Christin Jost ist Landtagskandidatin der Freien Wähler im Wahlkreis Hochtaunus in Hessen. Die zertifizierte Mütterpflegerin registriert vor allem Zuspruch für die Partei und Kritik an der Berichterstattung. Ähnlich ergeht es Susanne Rößner in Augsburg. Die Handwerksmeisterin kandidiert für den Bezirkstag und nimmt ebenfalls primär positive Reaktionen wahr. Auch in Aschaffenburg, wo die Oberstudienrätin Maili Wagner um Stimmen für den Landtag wirbt, sind negative Äußerungen die Ausnahme.

In der Umgebung von Mallersdorf-Pfaffenberg, also dem Ort, an dem die Affäre ihren Anfang nahm, ist Karina Luginger beheimatet. Die examinierte Krankenschwester kandidiert zwar aktuell nicht, treibt aber die thematische Entwicklung im Bereich Gesundheit und Pflege innerhalb der Freien Wähler voran. Auch sie erlebt ausschließlich Zuspruch und eine starke Solidarisierung. Lorenz Höfler wiederum, Landwirt und Landtagskandidat in Main-Spessart, spricht von einem sehr gut verlaufenden Wahlkampf und konstruktiven Bürgergesprächen.

Hat die Causa Aiwanger die Freien Wähler daher gestärkt? Aktuelle Wahltrends scheinen das zu bestätigen. Zuletzt standen sie in Bayern bei bis zu 17 Prozent mit steigender Tendenz und in Hessen wirkt die Fünf-Prozent-Hürde erreichbar.

Am Ende entscheidet der Wähler

Zentral sind aber natürlich keine subjektiven Eindrücke oder Umfragen, sondern, wie auch Armin Grein einwirft, Wahlergebnisse und diese werden im Oktober vorliegen. Einen Einbruch erwartet der Ehrenvorsitzende in Bayern nicht, eher einen Zuwachs. Dafür sprechen auch aktuelle Umfragen, welche die Freien Wähler bei bis zu 16 Prozent sehen. Am Ende wird der Souverän entscheiden und genau so soll es in einer demokratischen Ordnung doch auch sein, oder?

Wohin soll es gehen?

Dass sich weit darüber hinaus gesellschaftliche Strukturen entwickelt haben, die das Potential haben, einen Grundkonsens zu sprengen und damit die Demokratie an sich gefährden, müsste  ebenso zu umfangreichen und tiefgehenden Diskussionen führen, aber vielleicht sind Blicke, die lediglich aus dem eigenen Milieu herausgewagt werden, nicht dafür geeignet, das Große und Gesamte zu erkennen.

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