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> Masterpläne für die Euro-Zone

Keine Angst vor Anarchie

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Was, wenn die Halbwertszeit von Vorhersagen zur Zukunft Europas kaum länger ist als der tägliche Nachrichtenzyklus?

The European

Das Jahr 1964. Irgendwo tief unter der Erde liegt das Krisenkontrollzentrum der USA. Vor einer saalhohen Weltkarte sitzt die militärische und politische Führungselite unter grellen Industrielampen um einen runden Tisch. Die Erde befindet sich am Rande eines Atomkrieges, und Regisseur Stanley Kubrick lässt seinen Protagonisten, General „Buck“ Turgidson, das Wort ergreifen. „Mr. President“, ruft Turgidson mit schneidender Stimme in den Saal, „ich würde gerne ein oder zwei Dinge anmerken.“ "Er ergreift das Wort":http://www.youtube.com/watch?v=vuP6KbIsNK4: bq. Erstens wird die Möglichkeit einer Umkehr der 843sten Bomberstaffel immer unwahrscheinlicher. Zweitens wird der Russe unsere Flugzeuge in weniger als fünfzehn Minuten auf seinem Radar sehen. Drittens, wenn dass passiert, wird der Russe durchdrehen und uns mit seinem kompletten Arsenal angreifen. Viertens, wenn wir es bis dahin nicht geschafft haben, die Fähigkeit zur Durchführung eines Vergeltungsschlages zu unterdrücken, werden wir mit unserer kompletten Vernichtung zu rechnen haben. Wenn wir aber, fünftens, sofort einen vollständigen und koordinierten Angriff auf alle russischen Flughäfen und Raketenbasen starten, haben wir eine gute Chance, sie mit heruntergelassenen Hosen zu erwischen. […] Und sechstens, nach einer inoffiziellen Studie, die wir für diesen Eventualfall durchgeführt haben, würden wir mit einem solchen Angriff neunzig Prozent ihrer Atomwaffen zerstören. Wir würden als Sieger aus dem Konflikt hervorgehen und müssten nach der Schwächung der russischen Streitkräfte nur mit einer akzeptablen Anzahl ziviler Opfer rechnen. […] Zwanzig Millionen vielleicht. Kubricks Film „Dr. Strangelove“ ist auch heute noch eine hervorragende Offenbarung der absurden Logik des Kalten Krieges. Gestandene Männer starren auf blinkende Punkte der Weltkarte, auf Statistiken, auf militärische Notfallpläne, und tun dabei so, als hätten sie die Lage unter Kontrolle und als wären die Risiken eines Atomkrieges problemlos kalkulierbar. „Mr. President“, ruft Turgidson, „zwanzig Millionen sind besser als hundert Millionen.“

Europas Kontrollverlust
Und damit zur Euro-Zone. Was die Anleihekäufe der EZB, die Sparauflagen des europäischen Rettungsfonds und die Krisenpolitik der deutschen Kanzlerin eint, ist der Versuch, die Kontrolle über das Biest zu behalten, es vor sich her in die richtige Richtung zu treiben (was, je nach Überzeugung, entweder das Zusammenwachsen oder die Entfremdung Europas sein kann), anstatt von ihm in unerwartete Ecken getrieben zu werden. „Optionsmaximierung“ heißt das dann im Fachjargon der Realpolitik. Es könne keine Rede davon sein, dass das Bankensystem außer Kontrolle sei (Schäuble). Notwendig sei „eine Balance zwischen Haftung und Kontrolle“ für Länder mit Haushaltsdefiziten (Merkel), ein „Masterplan für die Vision Europa“ (Lagarde). Die Politik müsse die Kontrolle über die Krise zurückerlangen, Griechenland die Kontrolle über seine Staatsfinanzen, und der Markt über seine wilden Zuckungen. Das Verlangen nach Kontrolle – oder, besser gesagt, die Angst vorm Kontrollverlust – ist der große Trugschluss dieser Wochen und Monate. Ein Trugschluss, weil der Blick in die Vergangenheit zum einen offenbart, wie unberechenbar diese Krise ist. Die Verlautbarungen der Kanzlerin, ihrer europäischen Amtskollegen und auch der EZB gleichen, hintereinandergestellt, einer Achterbahnfahrt durch die fiskalpolitische Landschaft. Hilfszahlungen für Griechenland? Erst nur unter rigiden Auflagen, dann doch nicht mehr, dann ganz anders. Euro-Bonds? Auf keinen Fall, vielleicht aber doch, eventuell unter anderem Namen. Anleihekäufe durch die EZB? Niemals, außer, es wird doch notwendig. Auf bis zu zwei Billionen Euro soll der europaweite Rettungsschirm neuerdings aufgestockt werden. „Mr. President, zwei Billionen sind besser als fünf Billionen!“ Kontrolle sieht anders aus. Zum anderen ist Kontrolle aber ein Trugschluss, weil wir von einer Lösung der tief greifenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Probleme der Euro-Zone ungefähr so weit entfernt sind wie die FDP von der absoluten Mehrheit. Die Gefahr der Überschuldung besteht weiterhin. Und ein Jahrhundert nach der industriellen Revolution stellt sich mit dem Spardiktat (also mit der vermeintlichen Antwort auf schuldenfinanziertes Haushalten) die soziale Frage aufs Neue. In beiden Fällen wird das Risiko lediglich in die Zukunft verlagert – gelöst wird es nicht. Die Zeche verschobener Reformen, verzinseszinster Schulden und verdrängter sozialer Ungleichheiten fällt auf eine andere Generation, deren Stimmen heute noch nicht hörbar sind. Solange die Musik spielt, wird weiter getanzt als gäbe es keinen Grund zur Sorge – die Worte, mit denen ein US-Banker vor einiger Zeit die Firmenpolitik zur Hochzeit des Derivatehandels beschrieben hat, lässt sich ohne Weiteres auch auf andere Kontexte übertragen. Bis heute hat sich beispielsweise die britische Regierung (und auch die meisten britischen Massenmedien) um eine Aufarbeitung der Unruhen aus dem Sommer 2011 gedrückt, und auch die "Proteste in Spanien":http://www.guardian.co.uk/business/2012/sep/25/eurozone-crisis-merkel-draghi-lagarde-greece?newsfeed=true sind angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und der wachsenden Frustration mit verkrusteten parlamentarischen Strukturen kaum überraschend. Sicher ist: Mehr Polizeigewalt ist keine Lösung. Und wer angesichts von Jugendarbeitslosigkeitsquoten von über 20 Prozent immer noch fordert, dass sich die Demonstranten besser mit Krawatte zum Vorstellungsgespräch einfinden sollten als mit Guy-Fawkes-Maske zum Protest, der hat offensichtlich den Schuss nicht gehört.
Wer hat Angst vor Anarchie?
Es braucht nicht viel, um zu erklären, warum wir uns so krampfhaft an die Vorstellung von Kontrolle klammern. Das Gegenteil des Berechenbaren ist das Chaos, und das ist im Laufe der Geschichte selten gut ausgegangen. Je stakkatohafter das Reden von der Kontrolle, desto vergeblicher der Versuch, sie zu behalten. Die Angst vor der Anarchie sitzt tief. Auch, oder vielleicht ganz besonders, in den Medien. Die eigene „Deutungshoheit“ und die Autorität als „Leitmedium“ fußen auf der Vorstellung, dass die Krise erklärbar ist, und dass es genügend Menschen gibt, die diese Erklärungen für sinnvoll genug halten, um dafür ein paar Euro am Kiosk zu lassen oder ein paar Klicks auf der Webseite. „Kurs halten“, "fordert die „FAZ“ heute":http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/kommentar-kurs-halten-in-der-krise-11905056.html. Das ist, bei allem Respekt, ein bisschen schwachbrüstig. Zwischen den beiden Extremen – „Griechenland raus!“ und „Euro retten!“ ist oftmals nicht viel mehr zu finden als die wortgetreue Wiedergabe von Sound Bites. Auch die Medien müssen sich also die Frage stellen: Welche Antworten können wir liefern? Wie jede Selbstkritik, fällt auch diese schwer, vor allem, weil eine gewisse Grundarroganz schon immer Teil des journalistischen Geschäfts war. Doch das Magazin „Cicero“ hat es mit seiner Meldung zur Kanzlerkandidatur von Peer Steinbrück eindrucksvoll gezeigt: Die Welt entwickelt sich nicht in eine bestimmte Richtung, nur weil wir ganz feste dran glauben und es drucken (und nicht zu Unrecht ist direkt auf die Vorabmeldung die süffisante Anmerkung gefolgt, dass „Cicero“ in den vergangenen Jahren so ziemlich jeden zum Kanzler gekürt hat, der sich nicht bei drei hinter der nächsten Willy-Brandt-Statue verstecken konnte). Also: Bitte schön geordnet durch die Krise, und bitte keine Anarchie! Ein bisschen freaky ist schon okay, aber bloß nicht zu viel! Immer dann, wenn es heftig knallt, wenn am System gerüttelt wird, schließt sich die Kluft zwischen der regierenden und der schreibenden Zunft. Das war vor dem ersten Weltkrieg so, während der Studentenproteste der Sechziger, und es ist auch heute wieder der Fall. Wenn Medien über die Massenproteste in Europa berichten, ist die Grundskepsis oftmals unübersehbar. Doch das Bedrohliche an den Protesten ist nicht die Tatsache, dass Menschen wütend sind – sondern dass Antworten fehlen. Zu Recht warnt Ambrose Evans-Pritchard "in einer Kolumne":http://blogs.telegraph.co.uk/finance/ambroseevans-pritchard/100020330/be-very-careful-beloved-spain/ in der britischen Zeitung „The Telegraph“ vor den möglichen Konsequenzen, wenn die spanische Regierung den Druck der Straße nicht ernst nimmt. „Wenn etwas schiefgeht“, schreibt Evans-Pritchard, „dann geht es meistens richtig schief.“
Ein chaotisches System
Was aber, wenn wir nicht mehr sind als die Chronisten des Chaos? Was, wenn die Halbwertszeit von Analysen und Vorhersagen kaum länger ist als der tägliche Nachrichtenzyklus? Was also, wenn die Zukunft Europas sich nicht auf Gipfeltreffen oder in Redaktionssitzungen entscheidet, sondern in Athen und Madrid und Rom, auf all den Plätzen, auf denen jetzt wieder demonstriert wird und in all den Straßen, in denen populistische Parteien Handzettel verteilen, auf denen entweder das Blaue vom Himmel versprochen oder der Teufel an die Wand gemalt wird? Das ist eine sehr andere Sicht auf die Welt, als die, die derzeit in vielen Medien rezipiert wird. Eine Sicht, die Joshua Cooper Ramo kürzlich in seinem Buch „The Age of the Unthinkable“ als „Sandhaufen-Phänomen“ beschrieben hat. Ein Sandhaufen ist ein im physikalischen Sinne chaotisches System: Wenn man auf den Sandhaufen langsam von oben mehr Sand rieseln lässt, wächst und wächst der Haufen zunächst an. Irgendwann ist dann der kritische Punkt überschritten und in einer kleinen Sandlawine entlädt sich die zwischen zigtausend Sandkörnern aufgebaute Spannung. Wann das passiert, lässt sich nicht vorhersagen. Geben wir uns also keiner Illusion hin, dass wir den Lauf der Welt durch das rechtzeitige Ziehen an den richtigen Hebeln vorherbestimmen können. Vor allem dann nicht, wenn die Zukunft einer Währungs- und Staatenunion davon abhängt, dass der Plan auch wirklich funktioniert. Stellen wir also nicht die Frage, was denn in zwei oder sechs oder zwölf Monaten passieren werde, sondern fragen wir doch stattdessen, was denn der übernächste Schritt sein könnte, nur für den Fall, dass der nächste Schritt ins Leere geht. Noch nie zuvor ist versucht worden, eine Gemeinschaftswährung zu retten (wohl aber das Gegenteil: Mit dem Ende des österreichisch-ungarischen Reiches "musste auch die gemeinsame Währung eingestampft werden":http://www.npr.org/blogs/money/2012/06/01/154153186/how-to-kill-a-currency). Masterpläne gibt es nicht. Jedes Mal, wenn ich trotzdem von solchen Plänen lese, muss ich an General Turgidson denken. „Erstens, Mr. President …“ Ein Bekenntnis zu Europa heißt nicht, dass wir den Weg bis zum Ziel kennen müssen, um darüber schreiben zu können. Es bedeutet lediglich, in die richtige Richtung zu marschieren, manchmal vorsichtig, manchmal wild, und immer im Bewusstsein, dass sowieso alles ganz anders kommen kann. Es geht weniger ums Agieren als ums Reagieren – nichts anderes ist die Achterbahnpolitik der vergangenen Jahre. Kontrollverlust kann auch dazu führen, dass wir alte und überholte Weisheiten endlich über Bord werfen. Also: Keine Angst vor Anarchie!
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