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> Liebesdrama „Blau ist eine warme Farbe“

So viel Leben

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Der Film „Blau ist eine warme Farbe“ erzählt die Geschichte einer Liebe. Universell und doch besonders.

The European

Vor allem ist da dieser Mund. Mit roter Spaghetti-Sauce verschmiert. Schmollend. Küssend. Egal, was Adèle mit ihm tut, sie tut es mit Leidenschaft. Die 15-jährige Schülerin schmeißt sich dem Leben entgegen, ohne zu zögern und ohne Sicherheitsnetz. Sie ist so hungrig, dass es scheint, nichts und niemand könnte jemals ihren Appetit stillen. Das Gerede ihrer Freundinnen über süße Jungs und wer wann mit wem Sex hatte, nervt Adèle. Lieber beschäftigt sie sich mit „La vie de Marianne“, einem 600-Seiten-Wälzer von Pierre Carlet de Marivaux aus dem 18. Jahrhundert, der gerade im Unterricht durchgenommen wird. Als Hausaufgabe, so der Lehrer, sollen sich die Schüler mit der Idee der Vorherbestimmung beschäftigen. Ein bisschen muss es Adèle auch wie Vorherbestimmung vorkommen, als sie in einer lesbischen Bar in der Altstadt von Lille jene Frau mit den blau gefärbten Haaren wiedertrifft, die ihr ein paar Tage vorher zufällig auf der Straße begegnete: Emma studiert Kunst und ist ein paar Jahre älter als Adèle – aus den beiden jungen Frauen wird ein Paar, Adèle zu Emmas Muse. Alles, was Adèle in ihrer kurzen Beziehung mit einem netten, sehr in sie verliebten jungen Mann fehlte, erfährt sie nun durch Emma. Auch in diese Beziehung wirft Adèle sich ohne Scheu hinein, gibt, als sei ihr Vorrat an Küssen, an Liebe nie zu Ende.

Das Besondere schwindet
„Blau ist eine warme Farbe“ des französisch-arabischen Regisseurs Abdellatif Kechiche ist einerseits eine typische Coming-of-Age-Geschichte und andererseits doch so wenig typisch. Das hat auch die Jury in Cannes erkannt und dem Regisseur sowie ausdrücklich beiden Hauptdarstellerinnen, Adèle Exarchopoulos (Adèle) und Léa Seydoux (Emma), die Goldene Palme verliehen. Er wollte, so Abdellatif Kechiche, eine Geschichte über Liebe erzählen – nicht eine Geschichte über lesbische Liebe. Und zeigt mit seinem Film, dass Liebe zwar universell ist, aber eben doch das Besonderste, was es gibt. Bittersüß erzählt „Blau ist eine warme Farbe“ in schwelgerischen Bildern davon, wie das Gefühl des Besonderen in einer Beziehung schwindet, hinweggestohlen vom gemeinsamen Alltag. Vom heftigen, hingebungsvollen ersten Sex (einer extrem langen Szene) bis hin zum gemeinsamen Frühstück, bei der die eine nur telefoniert und die andere still an ihrem Baguette knabbert: Kechiche zeigt die Entwicklung der Beziehung über mehrere Jahre. Zeigt, wie aus der Schülerin Adèle eine liebevolle Grundschullehrerin wird, die sich zunehmend von ihrer Partnerin vernachlässigt fühlt. Zeigt, wie Emma Adèle dazu drängt, doch auch etwas Künstlerisches zu machen – Schreiben zum Beispiel, das könne sie doch gut. Zeigt, wie aus Gegensätzen, die sich anzogen, Gegensätze werden, die sich nicht vereinbaren lassen. Die bodenständige, zufriedene Adèle hier, die bohemienhafte, künstlerische Emma dort. Natürlich ist „Blau ist eine warme Farbe“ trotz aller Universalität ein Film über eine lesbische Liebe. Ihren Eltern stellt Adèle Emma als Nachhilfelehrerin vor, während Emmas Eltern ganz unbefangen mit der neuen Freundin der Tochter umgehen. Als Emma Adèle das erste Mal von der Schule abholt, führt das zu homophoben Äußerungen der vermeintlichen Schul„freundinnen“: Sie solle doch zumindest zugeben, dass sie lesbisch sei, mit der blauhaarigen Emma gefickt habe, kreischt es Adèle entgegen – dabei weiß die ja selbst überhaupt nicht, was diese Gefühle bedeuten, die sie gerade erst entdeckt hat.
Streit um die Sex-Szene
Während der Französischen Filmwoche in Berlin Anfang Dezember – wo „Blau ist eine warme Farbe“ vor dem offiziellen Kinostart läuft – sagt Abdellatif Kechiche, er hätte Konfliktszenen zwischen Adèle und ihren Eltern absichtlich nicht reingenommen, um die Homosexualität der beiden Liebenden nicht in den Vordergrund zu stellen. Dann wiederum stellt sich jedoch die Frage, warum es dann derart grafische Sexszenen braucht – geht es nicht vielleicht doch ein bisschen darum, dem vermutlich überwiegend heterosexuellen Publikum zu zeigen, wie das so aussieht, Lesben-Sex? Eben diese Sex-Szenen sorgten erwartungsgemäß für eine Kontroverse. Julie Maroh, auf deren Comicvorlage der Film basiert, "stellte fest, am Filmset hätten eindeutig Lesben gefehlt":http://www.juliemaroh.com/2013/05/27/le-bleu-dadele/ – die Szene erinnere eher an einen Lesben-Porno, sei brutal und chirurgisch. Und auch die beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos kritisierten "in einem Interview mit „The Daily Beast“":http://www.thedailybeast.com/articles/2013/09/01/the-stars-of-blue-is-the-warmest-color-on-the-riveting-lesbian-love-sory-and-graphic-sex-scenes.html den Umgang des Regisseurs mit ihnen, insbesondere während des Sex-Szenen-Drehs. Laut Exarchopoulos hätte Kechiche von ihnen verlangt, alles zu geben – und sie seien dazu bereit gewesen. Sobald der Dreh startete, hätte sie allerdings begriffen, was das bedeutet: „Die meisten Leute trauen sich nicht einmal, die Dinge zu verlangen, die er verlangte, und sie sind respektvoller – man wird während Sex-Szenen beruhigt und sie sind choreografiert, was den Akt entsexualisiert.“ Nicht so beim Dreh mit Kechiche. Ihnen beiden, so Seydoux und Exarchopoulos, sei die Szene im Nachhinein unangenehm. Oft hätte Kechiche nicht gewusst, was er eigentlich wolle, wodurch die Drehzeit sich extrem verlängerte. Beide Schauspielerinnen freuen sich zwar über die Goldene Palme, wollen aber nie wieder mit dem Regisseur zusammenarbeiten. "Vorwürfe, die Kechiche nicht auf sich sitzen lassen wollte":http://www.rue89.com/rue89-culture/2013/10/23/abdellatif-kechiche-a-ceux-voulaient-detruire-vie-dadele-246826. Seydoux – deren Großvater Besitzer von Pathé ist, dem wichtigsten französischen Film-Verleih und der wichtigsten Produktionsfirma – nannte er verwöhnt und undankbar. Zudem sieht er eine Art Komplott gegen ihn am Werk, bestehend aus verschiedenen Journalisten, dem Produzenten Jean-François Lepetit und anderen. Mit vielen Leuten aus seinem Team, so Kechiche in Berlin, arbeite er seit Jahren zusammen, habe mehrere Filme gedreht. Die Aussage ist klar: So schlimm kann ich gar nicht sein. Adèle Exarchopoulos steht derweil bemüht unbeteiligt daneben. Über die Stimmung am Set will sie nur sagen, dass es „eine große Freiheit“ gegeben habe und kaum Vorgaben. Was, wenn man ihre Aussagen über die Sex-Szene kennt, durchaus zweideutig zu verstehen sein dürfte.
Drei Stunden sind zu kurz
Dem Film selbst können diese ganzen Querelen glücklicherweise nichts von seiner Kraft nehmen. Er ist melancholisch, oft wehmütig und doch an vielen Stellen so lustig. So nah am Leben. Einige Szenen sind unbestreitbar voyeuristisch und doch bringt man es nicht über sich, Abdellatif Kechiche deswegen einen Vorwurf zu machen. Zu kurz erscheinen die drei Stunden Länge von „Blau ist eine warme Farbe“ – Adèle Exarchopoulos möchte man zu gerne noch weitere drei, vier, fünf Stunden anschauen. Ihr beim Leben zuschauen.
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