„Betrachten Sie die Welt mit Narrenaugen und Sie sehen mehr“
Seit der Gegenkultur-Bewegung der 60er-Jahre ist der Umweltaktivist, Internettheoretiker und Autor Stewart Brand politisch aktiv. Mit Martin Eiermann sprach er über seine Vorliebe für Atomkraft, deutschen Kulturpessimismus und die Bedeutung von Ideologie in der Politik.

*The European: Eines Ihrer aktuellen Projekte ist das Rosetta Project. Ziel ist, aussterbende Sprachen zu konservieren. Sind wir im Bezug auf Ideen und Kulturgüter zur Wegwerfgesellschaft geworden?* Brand: Interessant, so habe ich das noch nie gesehen. Ich glaube, wir sind sehr kurzsichtig geworden. Alles wird schneller, alle sind mit Multitasking beschäftigt. Investitionen sind auf kurzfristige Renditen aus, die Demokratie denkt im Wahlzyklus. Schneller Fortschritt ist gut, aber eben auch riskant. Wenn alles im Zeitraffer abläuft, erscheint die Zukunft sehr greifbar. Dabei zählt oftmals das, was in zehn oder einhundert Jahren passiert. Und wichtig ist auch nicht nur das Gestern oder Vorgestern, sondern die Vergangenheit der letzten zehn oder hundert oder tausend Jahre. Wir wollen ein Gegengewicht zur Beschleunigung schaffen. *The European: Ein Versuch, Phänomene wie den Klimawandel als Ganzes zu betrachten?* Brand: Ja, wir haben das große Ganze im Kopf. Hier ist ein Beispiel, wie sich das auswirken kann: Als die NASA in den 1960ern die ersten Bilder der Erde aus dem Weltraum veröffentlicht hat, hat das unseren Bezugsrahmen komplett verändert. Wir haben anders über die Erde, über unsere Umwelt, über das Menschsein nachgedacht. *The European: Ist die Idee des „blauen Planeten“ erst mit diesen Fotos aufgekommen?* Brand: Es gab vorher schon viele Zeichnungen der Erde aus dem All, genauso wie es auch gezeichnete Luftbilder von Städten gab, bevor wir Heißluftballons und Flugzeuge kannten. Aber die waren alle falsch. Normalerweise waren keine Wolken abgebildet, kein Wetter. Und die Zeichnungen haben nicht berücksichtigt, dass ein Teil der Erde immer im Schatten liegt und der Planet als Sichel erscheint – es sei denn, man hat die Sonne direkt im Rücken.