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> Keine Sozialpolitik der Bundesregierung

Lasst uns endlich über Armut sprechen

Bundespräsidenten-Kandidat der Partei DIE LINKE Christoph Butterwegge ist der Meinung, die Bundesregierung mache keine soziale Politik.

The European

An folgender Tatsache führt keine Manipulation statistischer Daten, kein parteipolitischer Beschönigungsversuch und kein mediales Ablenkungsmanöver mehr vorbei: Spätestens seit der Jahrtausendwende werden die Reichen hierzulande immer reicher und die Armen immer zahlreicher. So bezog das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, die beiden Konzernerben Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2016 für das vergangene Jahr eine Rekorddividende von 994,7 Millionen Euro nur aus BMW-Aktien. Nach dem Tod ihrer Eltern Herbert und Johanna Quandt gehört ihnen fast die Hälfte des größten bayerischen Automobilkonzerns. Man muss aber kein genauer Kenner der Vermögensverhältnisse dieser Unternehmerfamilie sein, um zu wissen, dass sie auch die Aktien anderer Firmen, andere Wertpapiere, Grundbesitz, Immobilien und Luxusgegenstände besitzt, von denen selbst Wohlhabende nur träumen können. Etwa zur selben Zeit, als die Familie Quandt/Klatten ihr selbst für Wohlhabende unvorstellbar riesiges Privatvermögen von über 30 Milliarden Euro weiter gemehrt hatte, gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass die Armuts(risiko)quote, also der Anteil jener Einwohner, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen, in Deutschland mit 15,7 Prozent den höchsten Wert seit der Vereinigung erreicht hat. Demnach sind 12,8 Millionen Menschen hierzulande arm oder armutsgefährdet. Laut einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben 20,2 Prozent der Einwohner keinerlei finanzielle Rücklagen und 7,4 Prozent sogar mehr Schulden als Vermögen. Über 22 Millionen Menschen, die in der Bundesrepublik leben, haben nichts auf der hohen Kante, sind also bestenfalls eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.

Die Unheimliche Macht der Reichen und Hyperreichen
Mehr als Lippenbekenntnisse hört man im Kampf gegen die Armut von den politisch dafür Verantwortlichen trotzdem nicht. Daher lautet die Kardinalfrage, warum sich die Öffentlichkeit der Bundesrepublik bisher kaum mit der Zerklüftung unserer Gesellschaft beschäftigt und warum die regierenden Politiker zu wenig dagegen tun. Darauf gibt es zweifellos ­
viele Antworten, von denen einige hier als Erklärungsgründe genügen müssen. Wer reich ist, ist meistenteils auch einflussreich. Großer privater Reichtum eröffnet die Möglichkeit, wirtschaftlich und politisch Macht auszuüben. Großunternehmer, Kapitalanleger, Industriekonzerne, Banken, Versicherungsgesellschaften und ihre Interessenverbände bestimmen daher maßgeblich die Grundrichtung der staatlichen Politik, also letztlich auch ­darüber, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Ein wahres Lehrstück erfolgreicher Lobbyarbeit bietet die Reform der Erbschaftsteuer für Firmenerben. Selten haben Wirtschaftsvertreter so massiv Einfluss genommen wie bei der vom Bundesverfassungsgericht am 17. Dezember 2014 geforderten Neuregelung der Erbschaftsteuer beim Unternehmens­übergang. Am Ende standen ein Kotau der Großen Koalition und eine Kapitulation von Teilen der parlamentarischen Opposition: CDU, CSU und SPD rangen anderthalb Jahre lang um einen Gesetzentwurf, der im Bundesrat keine Mehrheit fand. Durch den am 21./22. September 2016 im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat gefassten Kompromiss zwischen der Großen Koalition und den Landesregierungs­Grünen – die von der Linken mitregierten Bundesländer Brandenburg und Thüringen haben ihm ebenso wenig zugestimmt wie die Bundestags-Grünen – sind die Verschonungsregeln zwar noch komplizierter und zu einem Beschäftigungsprogramm für Steuer- und Anlageberater, aber nicht verfassungskonformer geworden. In manchen Fällen ist die neue Regelung für Firmenerben sogar günstiger als die ursprüngliche, vom Bundesverfassungsgericht für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte. Was haben die deutschen Unternehmerverbände, die Stiftung Familienunternehmen und der Verband „Die Familienunternehmer – ASU“ bei der jüngsten Erbschaftsteuerreform erreicht? Waren ursprünglich Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten von der Pflicht befreit, die Lohnsummen einige Jahre lang halbwegs konstant zu halten, und hatte die Regierung wegen der Kritik des Bundesverfassungsgerichts an dieser „Überprivilegierung“ von 99 Prozent aller Firmenerben zuerst eine Bagatellgrenze von drei Beschäftigten eingezogen, stieg diese wieder auf fünf Beschäftigte. Außerdem sinkt der Buchwert von Unternehmen durch Veränderung der Berechnungsart, konkret: die Verringerung des Kapitalisierungsfaktors, mit dem der Jahres­gewinn multipliziert wird. Firmen, die wie Konzerne im Familienbesitz per Satzung oder Gesellschaftervertrag festgelegte Ausschüttungs- und Entnahmerestriktionen, Verfügungsbeschränkungen und Abfindungsregeln kennen, werden durch einen Vorwegabschlag von 30 Prozent auf den Übertragungswert leichter steuerfrei vererb- oder verschenkbar. Beteiligungen an Holdings in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union beziehungsweise des Europäischen Wirtschaftsraums gehören zum Betriebsvermögen. Dies verdeutlicht zur Genüge, dass es den Lobby­isten und der CSU als ihrem parlamentarischen Arm nicht ­etwa – wie gebetsmühlenartig behauptet – um die Rettung des kleinen deutschen Handwerkbetriebs und den Erhalt seiner Arbeitsplätze ging. Die auf Weisung der Karls­ruher Richter eingeführte „Verschonungsbedarfsprüfung“ greift nicht, wenn das Unternehmen frühzeitig einem Kind ­ohne ­eigenes Vermögen übertragen wird. Erben großer Betriebsvermögen können zwischen der Verschonungsbedarfsprüfung und ­einem ­Abschmelzmodell, also der Möglichkeit wählen, das eigene (Privat-)Vermögen nicht offenlegen zu müssen. Aus den genannten Gründen dürfte sich die Kluft zwischen Arm und Reich in Zukunft noch weiter vertiefen. Denn auch der demografische Wandel trägt seinen Teil dazu bei, dass sich riesige (Betriebs-)Vermögen in wenigen Händen konzentrieren. Wenn die Unternehmerfamilien in Zukunft wegen des allenthalben prognostizierten Geburtenrückgangs tendenziell schrumpfen, wächst automatisch der ihren wenigen Nachkommen zufallende Reichtum.
Die doppelte Ausgrenzung der Armen
Armut bedeutet im Umkehrschluss, ökonomische und soziale Ohnmacht zu erfahren. Mit der sozialen Ungleichheit wächst nämlich auch die politische Ungleichheit. Seit geraumer Zeit gibt es Anzeichen dafür, dass der US-Amerikanisierung des Arbeitsmarktes (Herausbildung eines Niedriglohnsektors und eines lukrativen Bonussystems für Spitzenverdiener) und der US-Amerikanisierung des Wohlfahrtsstaates (Reprivatisierung sozialer Risiken) nicht bloß eine US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Polarisierung in Arm und Reich) und eine US-Amerikanisierung der Stadtentwicklung (Zerfall der Großstädte in Luxus- und Elendsquartiere), sondern auch ­
eine US-Amerikanisierung der politischen Kultur und des politischen Systems folgen, das nur mehr die Mittel- und Oberschicht repräsentiert, während die Unterschicht zunehmend resigniert und sich aus dem öffentlichen Leben zurückzieht. Bei der letzten Bundestagswahl prägte sich die soziale ­Schief­lage bei der Wahlabstinenz deutlich aus: In mehreren deutschen Großstädten betrug die Differenz zwischen sozial benachteiligten und Nobelvierteln über 40 Prozent. Immer mehr Arbeitslose und Arme verweigern sich dem Wahlakt aufgrund der Überzeugung, mit ihrer Stimmabgabe wenig bewirken und nichts bewegen zu können. Schließlich haben die etablierten Parteien ihre existenziellen Probleme in allen Regierungskonstellationen der vergangenen Jahrzehnte mehr oder weniger ignoriert. „Wahlmüdigkeit“ ist jedoch genauso wie „Politikverdrossenheit“ ein irreführender Begriff, der die Schuld den angeblich davon Befallenen zuschiebt, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich hierzulande wie in anderen Demokratien des Westens um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer prekären Existenz ist. Arme werden nicht bloß sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt. Sie kommen bei der politischen Teilhabe ebenso zu kurz wie bei der Verteilung von materiellen Ressourcen, Finanzmitteln und begehrten Gütern. Insofern kann man von einer doppelten Ausgrenzung der Armen sprechen. Die daraus resultierende Neigung, sich nicht mehr (regelmäßig) an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, stärkt wiederum paradoxerweise ausgerechnet jene politischen Kräfte, die um eine Sicherung der Privilegien kapitalkräftiger Interessengruppen bemüht sind. Denn die etablierten Parteien bemühen sich gar nicht mehr um die Stimmen beziehungsweise die Zustimmung der Unterprivilegierten, Prekarisierten und Pauperisierten, wenn sie wissen, dass diese ohnehin nicht zur Wahl gehen. So entsteht ein Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Apathie sozial Benachteiligter und einer deren Interessen vernachlässigenden Regierungspraxis, wovon wiederum rechtspopulistische Demagogen profitieren, die sich als Vertreter der „kleinen Leute“ ausgeben.
Die Politisch motivierte Fehlperzeption der Armut: Durch Regierende
CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem mitverschuldeten Problem einer wachsenden Armut, wie ihr „Deutschlands Zukunft gestalten“ überschriebener Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort „Reichtum“ nur als „Ideenreichtum“ beziehungsweise als „Naturreichtum“ und der Begriff „Vermögen“ nur als „Durchhaltevermögen“ beziehungsweise im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor. „Armut“ taucht in dem genannten Dokument zwar zehn Mal auf, aber in fragwürdiger Weise. Zuerst firmiert das Motto „Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen“ als Zwischenüberschrift zur Rentenpolitik der Regierungskoalition. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut. Beide Formulierungen legen den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede. CDU, CSU und SPD wollen „den Kampf gegen Bildungs­armut fortsetzen und intensivieren“. Damit werden die Alphabetisierungsbemühungen von Bund und Ländern begründet, ohne dass Kinder- und Jugendarmut auch nur erwähnt würden. Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen von CDU, CSU und SPD hauptsächlich mit der sogenannten Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und erniedrigender sein kann. Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort „Armutswanderung“ beziehungsweise „Armutsmigration“ verwendet. Gemeint waren seinerzeit Bulgaren und Rumänen, denen man eine „ungerechtfertigte Inanspruchnahme von ­Sozialleistungen“ vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden. Heute stehen Flüchtlinge aus ­Syrien, dem Irak und Afghanistan im Mittelpunkt der deutschen Armutsdiskussion. Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte ­Zuwanderer „importiert“ wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern noch von Flüchtlingen aus der sogenannten Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, das heißt durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.
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