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Kanzler in Reserve

Die Ampelregierung schlingert wild, die Autorität des Kanzlers schwindet, SPD-Ministerpräsidenten schlagen Alarm. Im politischen Berlin rumort es. Womöglich müsse man den Kanzler wechseln, raunen erste Sozialdemokraten. Mit Verteidigungsminister Pistorius stünde eine beliebte Alternative bereit - spätestens als Kandidat für die Wahl 2025. Von Wolfram Weimer

Boris Pistorius ist der Shooting Star der Regierung (Bild: Shutterstock_Alexandros Michailidis)
Boris Pistorius ist der Shooting Star der Regierung (Bild: Shutterstock_Alexandros Michailidis)

Die Stimmung in der Ampelregierung ist nicht schlecht, sie ist grauenhaft. Zum Start der parlamentarischen Sommerpause reden Koalitionäre normalerweise ihre Regierung schön. Nicht so bei der Ampelregierung. Offen ziehen grüne und liberale Regierungsvertreter derzeit übereinander her, nicht einmal brave Hinterbänkler der SPD finden lobende Worte zur Halbzeit der Legislatur. Die Regierung schlingert und die Verantwortlichen klagen laut darüber. Die Umfragewerte von SPD, FDP und Grünen sind darob katastrophal, die AfD erlebt hingegen einen historischen Höhenflug. Noch nie hatte eine Kanzlerpartei derart schlechte Werte - und zusehends gerät Kanzler Olaf Scholz selbst in die Kritik.

Am Wochenende haben gleich drei SPD-Ministerpräsidenten auf einmal die Arbeit der Scholz-Regierung öffentlich kritisiert. Das Heizungsgesetz habe das Fass der Wut über die Ampelregierung im Land zum Überlaufen gebracht. Die Menschen seien „hochgradig unzufrieden“ – das helfe am Ende nur der AfD, so lesen die Ministerpräsidenten Weil, Schwesig und Woidke ihrem Genossen Scholz unverhohlen die Leviten.

Der Donnerschlag der Ministerpräsidenten signalisiert - in der SPD wächst die Nervosität. Nicht nur die Umfragen sind miserabel, die Partei verliert mit dieser Regierung und diesem Kanzler auch eine Wahl nach der anderen. Das einstige SPD-Kernland Nordrhein-Westfalen ist an Schwarz-grün verloren, selbst im traditionell linken Berlin musste man der CDU die Landesführung überlassen - genau wie nun in einer metropolitanen SPD-Herzkammer. In Mannheim hat die SPD erstmals seit 50 Jahren die Macht verloren. (https://www.n-tv.de/regionales/baden-wuerttemberg/CDU-im-OB-Wahl-Hoch-article24247153.html)

In der SPD wächst die Sorge auch bei den anstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen unterzugehen. In Bayern ist die SPD in ersten Umfragen sogar unter die Demütigungs-Marke von 10 Prozent abgerutscht. Und in Hessen schafft es selbst Innenministerin Nancy Faeser nicht, Punkte für die SPD zu sammeln.

Der innerparteiliche Druck ist so groß, dass inzwischen auch Olaf Scholz offen infrage gestellt wird. Er wirke „ohnmächtig und passiv“, ihm entgleite die Regierung, es entstehe in der Bevölkerung der Eindruck eines „Übergangskanzlers“. Zudem drohten Scholz im Cum-Ex-Skandal womöglich neue, peinliche Enthüllungen. Da Scholz in der SPD ohnedies keinen tiefen Rückhalt hat, hört man unter Sozialdemokraten neuerdings die Vokabel „Kanzlertausch“. Der Gedanke mancher Genossen: Lieber in der Mitte der Legislatur die Führung austauschen, um die Wahlchancen in Ländern, bei der Europawahl 2024 und bei der kommenden Bundestagswahl 2025 zu erhöhen.

Die Aktion Kanzlertausch wird auch deswegen kolportiert, weil es - aus Sicht der SPD - einen gefühlten „Kanzler in Reserve“ gibt. Verteidigungsminister Boris Pistorius ist der Shooting Star der Regierung. Umfragen zeigen ihn derzeit sogar als beliebtesten Politiker Deutschlands. Pistorius ist inmitten der Ampelmisere zugleich einer der wenigen, die im Politiker-Ranking von Forsa immer weiter zulegen: 59 Punkte erreicht der SPD-Politiker dort aktuell, ein Plus von drei Punkten im Vergleich zur letzten Umfrage vom April. (https://www.n-tv.de/politik/Politiker-buessen-an-Vertrauen-ein-nur-Pistorius-nicht-article24187309.html)

Pistorius verkörpert in vielem das genaue Gegenteil von Olaf Scholz. Wo der Kanzler zögerlich wirkt, steht der Verteidigungsminister für Tatkraft. Während der eine häufig nebulös und bürokratisch fabuliert, spricht der andere gerne volksnahen, schnörkellosen Klartext. Wo Scholz introvertiert die Augen senkt, umarmt Pistorius sein jeweiliges Publikum. Wer die beiden unbekannterweise nebeneinander erlebte, würde immer wetten, dass Pistorius der Kanzler und Scholz der Staatssekretär sei.

Pistorius verfügt in der SPD über einigen Rückhalt, auch an der Spitze. So gilt der Parteivorsitzende Lars Klingbeil als Pistorius-Pate. Klingbeil hätte das Amt des Verteidigungsministers auch selbst ergreifen können, doch er rief lieber seinen niedersächsischen Landsmann und Vertrauten. Pistorius könnte also im Ernstfall auf Klingbeils Rückendeckung der Niedersachsen-Seilschaft setzen.

Pistorius war zehn Jahre lang Innenminister von Niedersachsen, davor sieben Jahre lang Oberbürgermeister von Osnabrück. Die hohe exekutive Erfahrung läßt ihn zuweilen wirken wie ein Widergänger Otto Schilys. Wie Schily strahlt auch Pistorius vom ersten Moment seiner Amtsübernahme Kraft und Kompetenz aus. Und auch die Lust, das Amt offensiv zu prägen.

Damit ist auch der Führungsstil von Pistorius so ganz anders als der von Scholz. Pistorius mischt sich liebend gern unter seine Mitarbeiter, unter Soldaten und Generäle. Zugleich betreibt er entschiedene Personalarbeit, tauscht auch mächtige Köpfe bis hin zu Generalinspekteur mal aus. Während Scholz abwägend und vorsichtig agiert, entscheidet Pistorius demonstrativ schnell und fackelt nicht lange. Kurzum: er verkörpert Autorität und kommt häufig wie ein General der Macht daher.

Die Rolle als Kanzler in Reserve wird zusehends zu einer eigenen Denkfigur. So gibt es schon erste Umfragen dazu. Laut ARD-Politbaromter-Umfrage trauen 34 Prozent der Deutschen Pistorius das Kanzleramt bereits zu.

Doch ist aus der SPD auch zu hören, dass Pistorius nie von sich aus - etwa mit einer Intrige - nach dem Amt greifen würde. Für die Aktion Kanzlertausch bräuchte es also eine weitere Verschärfung der Ampelkrise oder neue Enthüllungen im Cum-Ex-Skandal, so dass der Stabwechsel unausweichlich erschiene. Sollten sich freilich die Umfragewerte von Scholz und der SPD nicht grundlegend verbessern, kommt die Personaldebatte auch mit Blick auf den Bundestagswahlkampf 2025 auf die Tagesordnung. Wenn nämlich Pistorius bis dahin derart beliebt bleibt und der SPD im Jahr 2025 als der deutlich bessere SPD-Kanzlerkandidat vorkäme, könnte die Partei auch Olaf Scholz dazu drängen, freiwillig keine zweite Amtszeit mehr anzustreben. Aktion Kanzlertausch wäre dann nur ein Kandidatentausch. Das Ergebnis wäre das gleiche - Pistorius ist der Kanzler in Reserve.

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