In der Großen Koaltion setzt die SPD entscheidende Impulse
The European traf die bekannte SPD-Politikerin und Prefessorin Gesine Schwan zum Interview und sprach mit ihr über den Brexit, die Zukunft der SPD, über die AfD und das Phänomen Greta Thunberg.

Frau Prof. Schwan: Was halten Sie vom britischen Durcheinander und was wünschen Sie sich perspektivisch für die Briten?
Das ist zu allererst natürlich eine große Herausforderung für Großbritannien selbst, aber auch für die Europäische Union und es zeigt wie verantwortungslose Politik, und zwar auf der Seite der Konservativen Partei, seit Jahren sowohl in materieller als auch geistiger Hinsicht wahnsinnige Schäden anrichten kann, die dem kulturellen Zusammenhalt der Gesellschaft schaden. Die Labor Party handelt nicht entschieden und konstruktiv genug, weil ihre Haltung gegenüber der EU ja etwas ambivalent ist. Das kann man alles argumentativ nachvollziehen. Aber insgesamt hat dieses Durcheinander schon sehr hohe psychische und materielle Kosten verursacht. Perspektivisch wünsche ich mir eine bessere Verständigung innerhalb der britischen Gesellschaft. Vielleicht ist ein neues Referendum nötg.
Laut Umfrage hat bei der Europawahl schwarz-grün derzeit die Nase vorn? Was erwarten Sie für den 26. Mai für ein Ergebnis?
So lange vor der Wahl kann man das nicht genau sagen. Manfred Weber hat sicher sehr viel Erfahrung, nicht nur im politischen Diskurs sondern auch in Europa. Allerdings glaube ich, dass die Union gegenwärtig eine sehr auf eigene z.T. parteitaktische Interessen verengte Europapolitik vertritt, die ich nicht für gut heiße, sondern dass diese Europapolitik sowohl innerhalb Europa die Gräben zwischen Nord und Süd und Ost und West vertiefen würde, also auch insgesamt die Zerrissenheit.
In drei Bundesländern im Osten wird gewählt, die AfD hat gute Chancen, hier wieder Punkte zu sammeln. Was bedeutet das für die Demokratie?
Eine große Herausforderung; aber das Problem ist weniger die AFD selbst, sondern die Versuchung der Demokraten und auch der Pro-Europäischen Parteien, sich im Diskurs, in den Redewendungen und bei den Themen an die AfD anzupassen, anstatt die Ursachen für die Empfänglichkeit ihrer Unterstützer anzugehen, die ich stärker im sozioökonomischen Bereich als im kulturellen sehe.
Die SPD verliert – im Gegensatz zu den vergangenen Jahren in der Wählergunst –, obwohl sie für ein neues Rentenkonzept und für eine gerechtere Gesellschaft eintritt. Was läuft derzeit schief in der Partei. Warum kommt sie nicht aus dem Umfragetief und warum sind die Grünen derart im Aufwind?
Erstens ist die SPD im Aufwärtstrend. Sie war bei 15%, und ist jetzt bei 17%. Das ist immer noch sehr wenig, aber von Abwärtstrend kann man da nicht sprechen. Und zu diesem Aufwärtstrend hat unter anderem das Rentenkonzept beigetragen. Aber die SPD steht vor der großen Herausforderung, weil ihre Anhänger und Unterstützer eben auch durch ihre frühere Politik benachteiligt worden sind. Die Grünen profitieren einmal von dem sehr kommunikationsfähigen Spitzenduo. Frau Baerbock und Herrn Habeck. Außerdem profitieren sie davon, dass der aktuelle eher konservativ rechte Kurs, den Frau Kramp Karrenbauer aus innerparteilichen Gründen eingeschlagen hat, liberale Christdemokraten eher zu den Grünen bringt. Und die müssen aktuell auch ihre Vorschläge nicht unter Beweis stellen in Bundesregierungsverantwortung. Aber sie stehen für etwas, das die Menschen interessiert, sie wollen den Klimawandel verhindern. Die Herausforderung der SPD sehe ich darin, dass sie nicht nur die Umweltnachhaltigkeit angehen muss, sondern auch die soziale Verträglichkeit und Nachhaltigkeit. Und das ist bei den Wählern der Grünen nicht sehr von Bedeutung. Deren Wähler sind nicht Arbeitnehmer*innen, sondern Wähler aus dem bürgerlichen Lager, und da spielen die konkreten Arbeitsplatzprobleme, die durch den Wirtschaftsstrukturwandel natürlich hervorgerufen wurden, auch wenn sich das statistisch wieder ausgleicht, keine so große Rolle. Insofern sind da die Grünen aktuell taktisch und strategisch im Vorteil. Sie haben zudem eine intelligente Spitze.
Die SPD vertritt die Interessen der „kleinen“ Bürger: Warum sind Sie gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Weil dieses bedingungslose Grundeinkommen diverse Probleme aufwirft. Dass alle Menschen ein gleiches Recht und gleiche konkrete Chancen auf ein Leben in Würde und Freiheit führen, kann das Grundeinkommen gar nicht gewährleisten. Die Probleme, die diese Inklusion verhindern sind sehr vielfältig. Das sind Gesundheitsfragen, das sind psychologische Fragen, das sind materielle Fragen. Die sind aber nicht einfach alle mit einem Pfund Geld zu überwinden. Und es ist auch nicht zufällig, dass die Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens gut ausgebildete Leute sind, die wenig Geld verdienen. Die stellen sich dann vor, mit diesem Grundeinkommen einfach ihren Interessen nachugehen zu können. Das bedenkt aber nicht die vielfältigen die Probleme und die Herausforderungen, die ein gut ausgebauter Sozialstaat bedienen muss. Dazu gehört Kompetenz von Verwaltung, dazu gehört Hilfsfähigkeit auf den verschiedensten Gebieten, das kann nicht einfach mit Geld abgegolten werden.
Die Große Koalition regiert seit einem Jahr, wie beurteilen Sie den Output?
Ich finde, dass sie eine ganze Menge geschafft hat. Die Große Koalition steht unter sehr kritischer Beobachtung. Vieles, was im Koalitionsvertrag abgearbeitet wurde geht auf Vorschläge aus der SPD zurück. Hier wurde viel geleistet, die einzelnen Sozialmaßnahmen sind enorm. Wenn die SPD jetzt nicht in der Regierungsverantwortung wäre, würden alle diese Dinge wegfallen. Der SPD gelingt es, eine gute Balance herzustellen, dergestalt, dass sie eine verlässliche Regierungspartei ist und dennoch das eigene Profil zeigt und die Ziele deutlich werden, die sie über die Koalition hinaus vertritt. Insofern bin ich da jetzt nicht grundsätzlich kritisch. Wenn man mal schaut, was die Union inhaltlich in diese Koalition einbringt, dann liegt der Akzent insbesondere beim Innensenator beim Abschieben von Flüchtlingen, also bei der Exklusion. Frau Kramp Karrenbauer betont eine lückenlose Sicherung der europäischen Außengrenzen, wie man das durch ein Mittelmeer hindurchmachen kann, weiß ich nicht. Im übrigen, sterben davor in der Sahara mehr Menschen als im Mittelmeer. Das ist also alles ein sehr inhumanes Verhalten gegenüber den Migranten.
In vielen Ihrer Publikationen steht das Thema „Demokratie“ im Mittelpunkt? Sie organisieren einen Trialog in Berlin für Demokratie unter dem Motto: Wer trägt Verantwortung für die Demokratie?“ Was läuft denn ihrer Meinung nach falsch in der Demokratie?
Die Demokratie wie wir sie kennen, ist nationalstaatlich orientiert als repräsentative Demokratie und ich finde, dass das auch nach wie vor der richtige Ansatz ist. Aber, zum einen deckt sich die Reichweite der nationalstaatlichen Politik schon geographisch und bereichsmäßig nicht mehr mit den Herausforderungen, die wir durch Politik bestehen müssen. Die Menschen merken das auch, werfen das aber einfach der nationalstaatlichen Politik als Versagen vor. Aber diese kann weder di Steuerpolitik noch Klimapolitik national gestalten, noch kann sie Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik für sich allein machen. Das sind alles Aufgaben, die vor 40 / 50 Jahren vom Nationalstaat angegangen werden konnten, aber das geht heute nicht mehr. Die Menschen merken das und sind mit den Lösungen nicht mehr zufrieden. Außerdem haben sich überall in den Gesellschaften der letzten 30, 35 Jahre die Gegensätze angehäuft – und das ist eben auch nicht von der repräsentativen Demokratie, die wir jetzt haben, zu bewältigen. Ich glaube aber nicht, dass sie abgeschafft werden soll, ich glaube auch nicht, dass sie dauernd durch Volksentscheide ergänzt werden soll, weil das auch sehr problematische Folgen haben kann . Ich meine aber, dass sie durch sehr viel mehr Partizipation der Menschen ergänzt, gestützt und untermauert werden muss. Ich plädiere dafür, dass vor allem auf der kommunalen Ebene allgemein Beiräte oder beratende Räte gebildet werden, die sich zusammensetzen aus den Bürgermeistern und der Verwaltung zum einen, dann aus den Unternehmensvertretern und Unternehmen, der organisierten Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Kirchen Bürgerinitaitiven) und schließlich wenn möglich von Wissenschaftlern, die die Entwicklungen des der Gemeinde und des Lebensumfelds gemeinsam beraten und mitgestalten. Damit wächst auch die Chance, dass Bürgerinnen und Bürger mehr von ihren Interessen und Kompetenzen einbringen können, was schließlich dazu führt, das durch diese Identifizierung das Interesse an demokratischen Prozessen wieder gestärkt wird. Wer sich engagiert, der wählt auch, und der ist nicht so negativ wie Jemand, der aus verschiedenen Gründen sowieso nichts mehr mit der Politik zu tun haben will. Darum sollte die repräsentative Demokratie ergänzt werden – und zwar beherzt und zielstrebig. Und dafür besteht noch nicht genügend Bereitschaft bei den sich nationalstaatlich orientierenden Parteien. Auch Bürgermeister sind vielleicht nicht immer begeistert, wenn sie meinen, da kommt noch ein Beirat. Ich glaube aber, die Bürger müssen mehr handfeste mitgestaltende Möglichkeiten bekommen.
Was sagen Sie als langjährige Professorin und Universitätsrektorin zu den „Fridays for Future“. Schulschwänzen für den Klimawandel?
Schulschwänzen ist prinzipiell nicht in Ordnung. Es ist aber kein Verbrechen, sondern eine Ordnungswidrigkeit und sozusagen auch eine Art von zivilem Ungehorsam. Aber auf Dauer kann das einfach nicht zur Regel werden. Auf der anderen Seite ist es dringend notwendig, dass ein Bewusstseinswandel in Bezug auf die Dringlichkeit der Bedrohung durch den Klimawandel erfolgt, und wenn das jetzt erstmal ein Ansporn ist, dass Politik da noch entschiedener arbeitet, zum Beispiel in der Bundesregierung mit dem Klimakabinett, dann ist das gut. Ich denke auf längere Sicht wird man einen Weg finden müssen, dass nicht jeder Freitag der Schulunterricht ausfällt, weil das einfach nicht machbar ist, wenn man die Aufgaben der Schule auch bedenkt.
Frau Professor Schwan, Sie sind Philosophin, aber derzeit hat man eher den Verdacht, dass die Philosophie als Leitdisziplin den Diskursen hinterherhinkt. Hat die Philosophie ausgedient?
Nein. Aber ich glaube, dass die Philosophie zu wenig, außer bei einigen, die sie im öffentlichen Geschäft und in den Medien verankert haben, im öffentlichen Bewusstsein ist. Im Gegenteil: Alles das, was die Reflexion von Grundsätzen, nach den wir handeln und leben, verstärkt, und zwar nicht nur durch irgendwelche Vorträge von oben, sondern durch Diskussion, durch Erörterung, ist notwendig und findet übrigens auch zunehmend in der Gesellschaft wieder Interesse und Zuspruch. Bei der sehr klassischen Frage nach dem Sinn des Lebens, der eben durch Geld und Macht nicht befriedigt wird, sehen wir das. Darüber hinaus wäre es wichtig, dass auch in den Schulcurricula Philosophie eine noch sehr viel größere Rolle spielt, aber auch in den Universitätscurricula zum Beispiel in der Politikwissenschaft, wo die politische Ideen-Geschichte und Philosophie in den letzten Jahrzehnten sehr zurückgedrängt worden ist zugunsten empirischer Forschung, die ich nicht abwerten möchte, die aber letztlich keine Orientierung bietet. Was uns fehlt, ist eine eigenverantwortliche, manchmal auch von anderen Menschen aufgenommene, reflektierte Orientierung für das Individuelle und auch für das gemeinsame Handeln. Und das ist das Terrain der Philosophie und auch zumTeil der Theologie.
Fragen: Stefan Groß