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> Interview mit Ekin Deligöz

Runter mit dem Kopftuch

Wenn Sie mich fragen, müssen wir diesen Flüchtlingsdeal mit der Türkei sofort aufkündigen. Das Problem, das in die Türkei verschoben wird, kann die EU sehr wohl selbst lösen.

The European

__„Runter mit dem Kopftuch“ – als Ekin Deligöz das vor zehn Jahren gemeinsam mit einigen deutsch-türkischen Politikerinnen von in Deutschland lebenden Musliminnen forderte, war der Aufschrei in der türkischen Community groß. Konservative türkische Zeitungen schmähten die Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen radikale Moslems sprachen Morddrohungen gegen sie aus. Die Politikerin ließ sich davon nicht einschüchtern, sondern vertraute auf die Demokratie in Deutschland, in der Meinungsfreiheit und Pressefreiheit garantiertes Menschenrecht ist. Im Gegensatz zur Türkei, wo Journalisten und Politiker verhaftet werden, wenn sie sich kritisch zu Staats-präsident Erdogan äußern. Mit NITRO sprach Ekin Deligöz über Globalisierung und Migration, Bildung von Kindern und der Chance, die Flüchtlinge in Deutschland brauchen.__ NITRO: Frau Deligöz, Sie haben türkische Wurzeln und sind ein gutes Beispiel für gelungene Integration. Sie haben nach dem Abitur studiert, ein Diplom in Verwaltungswissenschaften gemacht und sind seit 18 Jahren Bundestagsabgeordnete. Wie haben Sie das geschafft? Deligöz: Es klingt alles sehr glatt und sehr rund, aber das war es bei weitem nicht. Ich musste mutig voranschreiten und mich den Herausforderungen immer wieder stellen. Als ich 1979 mit meiner Mutter nach Deutschland kam, gab es in Bayern türkische Schulen mit türkischen Lehrern. Unterrichtet wurde in türkischer Sprache, denn es war nicht vorgesehen, dass türkische Kinder Deutsch lernen. Ich hatte ganze zwei Stunden Deutsch in der Woche, und in dieser Zeit konnte ich die deutsche Sprache beim besten Willen nicht lernen. NITRO: Sie haben die Sprache trotzdem gelernt und sprechen heute nahezu akzentfrei deutsch. Deligöz: Ich wurde in meinem Elternhaus intensiv gefördert und gefordert, denn meine Eltern haben sehr früh erkannt, dass die Sprache der Schlüssel für Erfolg ist. Bei uns wurde viel gelesen, viel geredet, viel diskutiert, oft auch kontrovers. Aber es wurde sehr, sehr viel Wert darauf gelegt, dass ich die deutsche Sprache beherrsche. Meine Mutter traute dem türkischen Unterricht nicht: „Bevor du schlechtes Türkisch lernst, lernst du gutes Deutsch an einer deutschen Schule.“ Ich wechselte die Schule und ging mit deutschen Kindern in eine Klasse. Das war der Türöffner für mich und andere türkische Kinder, denn viele Eltern machten es uns nach und schickten ihre Kinder auf deutsche Schulen. NITRO: Sie hatten offensichtlich sehr fortschrittlich denkende Eltern. Deligöz: Absolut. Meine Mutter ist Lehrerin, mein Großvater war ebenfalls Lehrer, ich komme aus einem progressiven Haushalt. Was ich besonders geschätzt habe: Meine Mutter forderte nicht ständig, ich müsse die Beste sein. Ich durfte mich ausprobieren und auch mal scheitern. Ich glaube, dieses „Du hast die Freiheit, und wenn du willst, kannst du es schaffen“ hat mich sehr mutig gemacht. NITRO: Integration kann also nur über die Bildung von Kindern erfolgreich sein? Deligöz: Natürlich, aber dazu gehört auch, dass die Eltern hinter den Kindern stehen. Wenn wir über Bildung, Integration und Migration reden, ist es wichtig, dass wir immer auch die Familie mitnehmen und die Eltern überzeugen. Denn Elternarbeit ist mindestens genauso wichtig wie eine gute Bildung. Das fängt schon bei der Frage an, ob ein Kind einen Schreibtisch zu Hause hat, ob es Ruhe hat zum Hausaufgaben machen oder ob im Hintergrund permanent der Fernseher läuft. NITRO: Sie wurden im Elternhaus gefördert, und wie sah es in der Schule aus? Deligöz: Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie mit meiner Biografie aufsteigen wollen oder überhaupt wahrgenommen werden möchten, erfahren Sie bei jedem Schritt, den Sie gehen, viel mehr Entmutigungen als Motivation. Das war so, als ich in die deutsche Klasse wollte. Da hieß es: Kannst du das überhaupt, schaffst Du das? Es war so, als ich aufs Gymnasium ging. Da wurde mir bis zur achten Klasse immer wieder erklärt, dass ich eigentlich überfordert bin, obwohl meine Noten gut waren. Es war so, als ich in die Politik ging. Da haben mir viele gesagt: Du mit deinem türkischen Namen wirst da nie erfolgreich sein. Sogar als ich in den Haushaltsausschuss wollte, wurde ich gefragt: Kannst du das überhaupt? Ich habe ein Diplom in Verwaltungswissenschaften und mein Studium mit einer sehr guten Note abgeschlossen, und trotzdem wurde immer an mir gezweifelt. Da bleiben Verletzungen. Sätze wie „Kannst du das überhaupt?“ sind ein Stich ins Herz, und man fragt sich: Herrgott, was soll man denn noch alles beweisen? Es gibt aber eine schöne türkische Weisheit: „Wenn du in der Wüste bist, musst du entweder lernen, ein Kamel zu reiten, oder die Wüste verlassen“. Und ich habe es immer vorgezogen, Kamelreiten zu lernen. NITRO: Warum traut die Gesellschaft den Migranten so wenig zu? Deligöz: Es ist einfach in den Köpfen drin. Wer als Migrant vorankommen will, muss auf jeden Fall besser sein als alle anderen. Sie müssen viel mehr arbeiten, um wahrgenommen zu werden. Ich würde mir wünschen, dass man den Migranten mehr zutraut und ihnen die gleichen Chancen gibt. Was die Gesellschaft von Migranten fordert, ist noch nicht in die Kultur des Förderns übergegangen, und auf keinen Fall ist es in einer Kultur des Akzeptierens angekommen. NITRO: In Deutschland gab es im letzten Jahr 1,5 Millionen Flüchtlinge, und die Gesellschaft spaltet sich in diejenigen, die sagen: Wir dürfen die nicht alle aufnehmen, und in die Willkommenskultur derer, die sagen: Wir müssen Menschen in Not helfen. Die Gesellschaft scheint in dieser Frage gespalten. Fürchten Sie, dass sich die Spaltung vertiefen wird? Deligöz: Diese Spaltung gibt es nicht nur bei den Flüchtlingen, die erleben wir auf ganz vielen Ebenen. Es gibt eine Spaltung in der Bildungsrepublik, wir haben sie bei Armut und Reichtum und müssen zugeben, Gerechtigkeit ist nicht nur eine Frage der materiellen Teilhabe, sondern auch einer demokratischen Teilhabe. Diese demokratische Teilhabe produziert Leute auf der Zuschauerbank und Leute, die mitreden. Und je mehr Menschen auf der Zuschauerbank sitzen, desto tiefer wird dieser Riss. Das hat nicht nur etwas mit Migration zu tun. Ich glaube, dass sich diese Spaltung nur dann nicht vertieft, wenn wir etwas dagegen tun und gemeinsam dafür einstehen. Die Spaltung wird sich verstärken, wenn wir passiv sind und wegschauen, weil das bequemer ist. NITRO: Hat sich die Politik von der gesellschaftlichen Realität ein Stück weit entfernt? Deligöz: Ich finde, Sie tun uns Abgeordneten und den politischen Vertretern Unrecht, denn auch wir sind mitten im Leben. Ich kann nur für mich sprechen, aber es geht vielen Kollegen im Parlament ähnlich. Ich habe Kinder, ich gehe auf Spielplätze und bin immer wieder mit meinen Nachbarn im Gespräch – über ganz normale Dinge. Ich bin ein sozialer Mensch und nicht nur eine Politikerin, die in einem Turm sitzt. Es gehört zu meiner Tätigkeit, Vereine, Verbände, Organisationen und Projekte vor Ort zu besuchen, und ich höre mir die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger an. Nein, ich empfinde mich nicht ganz weit weg von den Menschen, sondern mit-tendrin, ebenso wie all unsere Stadträte, Kreisräte und Ehrenamtlichen in den Gemeindevertretungen. NITRO: Was läuft dann falsch, wenn sich die Menschen einer populistischen Partei wie der AfD zuwenden? Deligöz: Es hat sehr viel mit Sprache und der Frage zu tun: Woher kommt die AfD und woher kommt der Populismus? Im Moment scheint die Welt in einer sehr instabilen Lage zu sein. Globalisierung, Migration, Kriege und ein soziales Gefüge, mit einer Spaltung in Arm und Reich. Es gibt empfundene Ungerechtigkeiten. Die sind real vielleicht gar nicht da, aber sie wer-den empfunden. NITRO: Leben wir nicht in einem Sozialstaat, der sehr viel abfedert? Deligöz: Stimmt, wir sind ein Sozialstaat, aber wir sind kein „Mutterstaat“, der alles übernimmt. Der Sozialstaat erfordert extrem viel Mündigkeit, Eigeninitiative, Engagement und Selbstverantwortung. Der Staat sagt auch: Es gibt ein soziales Netz, das ist für dich da, aber zuerst bist du für dich verantwortlich und erst dann, wenn du scheiterst, wirkt das soziale Netz. Da fühlen sich viele Menschen alleine gelassen und suchen nach einfachen Lösungen, klaren Antworten ohne Wenn und Aber. Der rechte Populismus vermittelt eine gewisse Identität und Wertigkeit, in dem andere niedriger bewertet werden und der sich selbst zur Leitkultur erklärt. Das Präfix „Leit“ impliziert ja bereits den Gedanken, dass manche eine "höhere Kultur" haben, und andere eine "niedrigere". Damit bist du etwas wert, und andere sind weniger wert. Es gibt Parteien, wie die CSU, die solche Denkweisen bedienen, und das hat folgenden Effekt: Je mehr Parteien sich auf diesen Leit-Identitätsgedanken einlassen, desto mehr profitiert die AfD. Die Konsequenz daraus sollte sein: Wir müssen in einer Sprache sprechen, die die Menschen verstehen. Wir müssen, und das ist eine Hausaufgabe an die demokratischen Parteien, unsere Sprache vereinfachen, ohne in den Populismus abzudriften. NITRO: Viele Menschen haben doch Angst vor diesen Flüchtlingsströmen, oder? Deligöz: Weil die Angst geschürt wird. Das fängt bei negativen Schlagzeilen in den Medien an und geht weiter bei problematischen Aussagen von Politikern. Die Medien reden leider kaum über das, was gut wird. Es wird oft negativ berichtet, denn das gibt Schlagzeilen. NITRO: Was läuft denn positiv, haben Sie ein Positivbeispiel? Deligöz: Der Bundestag wird in diesem Jahr ein Haushaltsbudget von 330 Milliarden für das kommende Jahr verabschieden, so viel Geld hatte die öffentliche Hand in Deutschland noch nie zur Verfügung. Und davon gehen fast 60 Prozent in den Sozialetat. Jetzt lassen Sie uns mal die Bildungsausgaben herausrechnen, dann sind wir immer noch bei 50 oder 45 Prozent. Dieses Geld steht den Menschen zur Verfügung und verschwindet nicht in dunklen Kammern. Aber die Menschen haben sich so daran gewöhnt, dass das alles selbstverständlich ist. Sie bemerken die Besonder-heit gar nicht mehr. NITRO: Wie sollte sich die Zivilgesellschaft positionieren, um mit Menschen aller Kulturen harmonisch zu leben? Denn in den nächsten Jahren werden immer noch Menschen nach Europa und Deutschland wollen. Deligöz: Lassen Sie uns mal ehrlich sein. Es gibt einen Unterschied zwischen der Gastarbeitergeneration, die meine Mutter nach Deutschland gespült hat, und den jetzigen Flüchtlingen. Die Gastarbeiter wurden gebraucht, hatten Arbeit, haben Geld verdient, hatten eine soziale Sicherung und waren nicht auf den Staat angewiesen, sondern sie haben dem Staat etwas gebracht. Die Flüchtlinge, die jetzt kommen, die haben nichts. Die haben oft nicht einmal eine Qualifikation. Sie kommen aufgrund von Kriegen und aus einer Not heraus. Der UNHCR sagt: Wir haben weltweit 65 Millionen Flüchtlinge. Davon sind noch nicht einmal zehn Prozent außerhalb ihrer Länder, sondern die meisten Flüchtlinge sind Binnenflüchtlinge oder Nachbarschaftsflüchtlinge. Und die, die nach Europa kommen, es sind weniger als zehn Prozent, kommen aus großer Not. Wir dürfen nicht Menschen zu einer Krise erklären, sondern müssen die Krisen dort bekämpfen, wo sie entstehen. Wir sollten hinter diesen Flüchtlingen die Chance erkennen, dass wir auch in Zukunft Arbeitskräfte brauchen. Und: Was wir heute in diese Menschen investieren, können sie in ihren Ländern einsetzen, wenn sie zurückkehren. Dann können sie ihre Länder wieder stabilisieren und aufbauen. Das ist doch die beste Entwicklungsarbeit. NITRO: Sie leben in Bayern, und Bayern ist ein gutes Beispiel dafür, dass Integration gut klappen kann. Deligöz: Es klappt deshalb gut, weil wir eine sehr breite Zivilgesellschaft haben, die sagt: Jeder von uns muss einen Beitrag dazu leisten. Wenn wir den Menschen die Möglichkeit geben, sich einzubringen und Identitäten zu bilden, sind wir auf einem guten Weg zu einer „Wir-Gesellschaft“. NITRO: Es gibt aber auch Bundesländer, in denen die Integration nicht so gut geklappt hat. Es gibt Parallelgesellschaften in manchen Orten, und wir sprechen von Ghettoisierung. Was hat die Politik falsch gemacht? Deligöz: Schon vor Jahrzehnten hätte man andere Wege gehen müssen. Schon damals kamen die Migranten und wurden nicht integriert. Die blieben außen vor, und man hat in den Wohngebieten ethnische Kolonien gebildet. Integration war das Ergebnis eines Zufalls. Ein großer Fehler. Die Gesellschaft wollte Integration nicht, sie wollte Maschinen. Die Forderung von Seiten der Politik an die Zuwanderer lautete damals: „Kommt her, arbeitet für uns und haut dann wieder ab, wenn wir euch nicht mehr brauchen. Und so lange investieren wir auch nicht in euch.“ Für eine gute Integration ist aber Bildung wichtig, und die Sprache ist der Schlüssel. Das heißt: Für die Kinder von Migranten ist ein sozialer Aufstieg nur durch Bil-dung möglich. NITRO: Ist der Satz von Angela Merkel: „Wir schaffen das“ mit dem Abstand immer noch richtig? Deligöz: Wir haben es doch geschafft. Viele sind angekommen, viele finden ihren Weg. Es gibt viele gute Beispiele. NITRO: Kommen wir zum Thema Türkei. Seit dem Militärputsch ist die internationale Lage sehr instabil geworden. Wie bewerten Sie die Erfolgschancen der EU mit dem Türkeiabkommen? Deligöz: Die große Schwäche der EU ist, dass sie sich nicht einig ist. Das Einzige, worauf sich die EU einigen kann, ist zu sagen: "Wir wollen die Flüchtlinge nicht." Wenn Sie mich fragen, müssen wir diesen Flüchtlingsdeal mit der Türkei sofort aufkündigen. Das Problem, das in die Türkei verschoben wird, kann die EU sehr wohl selbst lösen. Dazu muss man aber bereit sein. Es ist eine kurzsichtige, engstirnige Politik, die sich die EU im Moment gegenüber der Türkei leistet. Wir werden dafür einen hohen Preis im Bereich der Verteidigung unserer Werte bezahlen. Und das nur, um einige wenige Menschen vor den Türen zu halten. Das ist bitter. Wir leben in einer historischen Zeit, in der es darum geht, ob es uns gelingt, unsere Werte zu retten oder sie zu opfern. Das Zweite sollten wir uns nicht leisten. Das Gespräch führte Bettina Schellong-Lammel Mit freundlicher Genehmigung von NITRO

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