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> Ingo Friedrich über Flüchtlingskrise

Wir vertragen keine zweite Flüchtlingswelle

Ein großer Europapolitiker der Union spricht Klartext: Wir vertragen keine zweite Flüchtlingswelle!

The European

*Steht Europa vor dem Abgrund? Nie stand es schlimmer um die Einheit der EU, für die Helmut Kohl und François Mitterrand gekämpft haben.* Vor dem Abgrund stehen wir Gott sei Dank nicht. Aber es ist schon besorgniserregend, wie wenig europäische Entscheidungen akzeptiert werden. Es fehlt auch weitgehend das Bewusstsein dafür, dass in manchen Bereichen das langfristig rich­tige europäische Gemeinwohl nicht immer mit dem nationalen ­Gemeinwohl übereinstimmen kann. Dieses europäisch ausgerichtete Gemeinwohl ist aber langfristig auch für das nationale Gemeinwohl außerordentlich wichtig. *Sie hatten mal betont, dass ein Brexit schlimmer als ein Grexit wäre – nun haben wir einen Brexit. Was verändert sich dadurch in Europa langfristig?* Es zeigt sich, wie zerbrechlich Europa auch nach 60 Jahren Einigung und Europavertrag immer noch ist. Ich glaube, dass die Herausforderungen für Großbritannien deutlich schwieriger sein werden als für Europa. Für viele wird erst jetzt deutlich, wie „teuer“ es ist, wenn man Europa „verlässt“ und was man damit aufgibt. Bisher sind in England und in vielen Teilen Europas nur die Nachteile, aber nicht die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft bekannt. Jetzt wird deutlich, welche Vorteile man verliert, wenn man aus Europa austritt. Europa wird diesen schmerzlichen Aderlass überleben, aber wir müssen vermeiden, dass andere etwas Ähnliches tun. Ich erwarte allerdings, dass es England langfristig bereut, für den Brexit gestimmt zu haben. *Haben Sie Angst davor, dass noch mehr Länder in der ­jetzigen Situation aus Europa ausscheiden?* Die Sorge habe ich nicht, weil bereits jetzt etwa durch die Abwertung des Pfundes und durch die Abwanderung von Firmen sichtbar wird, welche negativen Folgen ein solcher Schritt hat. Hinzu kommt: Viele EU-Bürger in England befürchten, ­­
aus- oder abgewiesen zu werden. Für andere mögliche „Austrittskandidaten“ – Niederlande, Österreich, aber auch Frankreich – werden diese Informationen und Erkenntnisse vielen Bürgern die Augen öffnen. *Der Rechtspopulismus ist in Frankreich, Belgien, Deutschland und Ungarn auf dem Vormarsch. Sind es nationale ­Probleme, die die Bürger nach rechts außen drängen?* Es gibt ein Bündel von Gründen und Problemen: Man könnte fast von einem Aufstand gegen die „Moderne“ sprechen. Viele Menschen sind durch die schnellen Veränderungen der Globalisierung, der neuen Ordnung in Europa, durch die Komplexität der Welt des 21. Jahrhunderts in echter Sorge: Wie können wir unsere eigene Identität bewahren? Hinzu kommen die Sorge vor einem radikalen Islam und das Unverständnis über die Europäische Zentralbank und deren Zinspolitik. Diese Melange von nationalen, internationalen und technischen Gründen ist die Grundlage für die Empfänglichkeit für Thesen, die die Welt einfacher erklären und die signalisieren, wir möchten und können so leben wie früher. Dieses „so leben wie früher“ geht aber nicht mehr. Aufgabe der Politik muss es sein, den Menschen Sicherheit zu bieten, wo immer es möglich ist. Ein Beispiel: Der radikale Islam, der keine Nächstenliebe kennt, sondern auch den Staat beherrschen will, hat keinen Platz in Europa. Und es muss auch gesagt werden, dass ein offener Welthandel Wohlstand ermöglicht und erhöht. Allerdings müssen wir erkennen, dass die Wohlstandswirkungen der Globalisierung nicht automatisch bei allen ankommen. Das muss korrigiert werden. *Die Vormachtstellung Deutschlands wird seitens der EU-Partner immer wieder kritisiert. Dabei wird argumentiert, dass wir uns als moralische Besserwisser aufspielen. Als diejenigen, die die Wahrheit quasi gepachtet haben. Ist da was dran?* Ja, da ist etwas dran. Die Sicht auf Deutschland von außen wird dadurch geprägt und vielleicht sogar verfälscht, dass man meint, die Deutschen seien in ihrer Entwicklung schon 10, 20, 30 Jahre voraus, was beispielsweise die Genderpolitik, was die Internationalisierung und die Offenheit für Flüchtlinge betrifft. Und wenn wir als Deutsche – aufgrund unserer Stellung in der Mitte Europas und aufgrund unserer wirtschaft­lichen Erfolge – eine besondere Verantwortung für Europa haben und insofern eine gewisse führende Aufgabe in Europa wahrnehmen, dürfen wir uns nicht zu weit von dem allgemeinen europäischen Mainstream entfernen. Wir müssen zumindest Verständnis dafür aufbringen, dass andere Länder, gerade die östlichen wie Polen oder Ungarn, einfach noch nicht so empfinden wie viele Deutsche etwa in der Flüchtlingsthematik. Und: Eine führende Macht wie Deutschland muss permanent mit den Nachbarn reden und die eigene Politik erklären. *Was sind die Hauptängste und Sorgen, die Europas Bürger bewegen? Das können ja nicht nur die einzelnen Interessen bei der Umverteilung der Flüchtlinge in Europa sein?* Diese von Europa verordnete Umverteilung wird von einigen Staaten als Einmischung in die zentrale, nationale Souveränität empfunden oder vielleicht sogar missverstanden. Aber die Hauptsorge in ganz Europa gilt dem radikalen Islam – mit den befürchteten Auswirkungen auf die Stellung der Frau, auf die Möglichkeit, seine sexuelle Anlage so auszuüben, bis hin zur strikten Trennung von Staat und Kirche. Und diese Sorge muss ernst genommen werden. Wir müssen unseren Bürgern mitteilen, dass der Nationalstaat zwar nicht mehr die Rolle wahrnimmt, die er früher wahrnehmen konnte, aber die gewünschte nationale Nähe und nationale Wärme auch im neuen Europa möglich bleibt. Die Lösung wäre eine neue Rolle des Nationalstaates im gemeinsamen Europa, mit einer gemeinsamen Ausübung von Souveränität auf den Gebieten, die der Nationalstaat nicht mehr bewältigen kann. *Die Idee eines vereinten Europas ist alt, schon Erasmus von Rotterdam und Nikolaus von Kues sahen in diesem Bund einen Stabilitätsfaktor für einen ewig währenden Frieden. Sie haben lange als Vizepräsident des Europäischen Par­laments gearbeitet, Sie sind Ehrenvorsitzender, was rät der Politiker und Kenner Friedrich den derzeit politisch Verantwortlichen in der Kommission mit dem Europaparlament? Was sind Auswege aus der Krise?* Erstens, ganz wichtig: Kommunikation! Zu erklären, warum etwas gemacht wird. Ein Mario Draghi muss erklären, warum in der heutigen Situation – mit der Gefahr der Deflation – diese Zinspolitik jetzt adäquat ist und dass sie sich irgendwann wieder ändert. Zweitens: Die Kommission muss auf viele kleinere Reglungen verzichten. Man muss den Mut zur Lücke aufbringen. Selbst wenn dann nicht alles, etwa im Umweltschutz oder im Verbraucherschutz, gleich geregelt wird, ist es eben zu akzeptieren, dass manche Dinge in Europa unterschiedlich bleiben. Dieser Mut zur Lücke ist wichtig, um zu verhindern, dass sich die Menschen von Europa bestraft oder gegängelt empfinden. Zu klären und zu ändern ist, warum zum Beispiel das amerikanische Unternehmen Apple in Irland nur 0,005 Prozent Steuern zahlt, während es doch in ganz Europa Gewinne macht. Hier gibt es bisher keine europäische Regelung, sie ist aber bitter notwendig. *Demokratie heißt immer Diskurs mit den Bürgern. Was könnten die einzelnen Bürger Europas tun, damit der ­derzeitige Keil, der viele Staaten voneinander trennt, weil auch viele Bürger nationalstaatliche Interessen haben, überwunden werden könnte?* Die Bürger sollten auch mal überlegen, wie und warum Polen, Franzosen und Ungarn zu manchen Themen anders als wir denken. Warum sieht es der slowakische Bürger so, dass keine Muslime sein Land betreten sollen. Dann teilen wir zwar nicht diese Meinung, aber wir sollten ein Verständnis dafür haben und hoffen, dass er im Laufe der Jahre akzeptiert, dass eine überschaubare Zahl von Muslimen – auch aufgrund der Solidarität mit Griechenland – in der Slowakei aufgenommen werden sollten. Dazu kommt, dass wir alle erkennen müssen, dass 70 Jahre Frieden eine ganz neue Herausforderung bedeutet. 70 Jahre Frieden eröffnet ein ganz neues und anderes Themenspektrum: Wie behandle ich meine Nachbarn, wie komme ich mit dem Phänomen der Deflation zurecht, wie gestalte ich eine korrekte oder faire Konkurrenz mit unseren Nachbarn? Und: Es ist nicht möglich, diesen neuen Herausforderungen auszuweichen, sie müssen durch eine kluge Politik bewältigt werden. Dazu gehört aber, dass sich unsere Eliten beispielhaft und überdurchschnittlich mit den neuen Themen beschäftigen, sie kommunizieren und akzeptable Lösungen für alle Bürger vorschlagen. *Vertragen wir eine zweite Flüchtlingswelle? Es sind ja noch 65 Millionen auf der Flucht, viele von ihnen wollen nach Europa, besonders nach Deutschland. Was passiert dann?* Nein, vertragen wir nicht! Die Kanzlerin hat damals den Fehler gemacht, nach der unvermeidbaren Öffnung der Grenze für kurze Zeit zu sagen, dass dies die Ausnahme sei und dass es nach dieser Sondermaßnahme wieder zum Normalfall kommt, das heißt, dass der Staat wieder die absolute Kontrolle über seine Grenzen übernimmt. Für die Zukunft bedeutet dies: Wir können nur in begrenztem Maße Flüchtlinge aufnehmen. Ob man dazu Obergrenze oder Orientierung sagt und die Zahl auf 200.000 oder 300.000 für Deutschland beschränkt, ist egal. Mehr können wir nicht verkraften. Konkret bedeutet dies, dass die europäischen Außengrenzen nicht nur geschützt, sondern ein Stück weit auch geschlossen werden müssen. Um es noch präziser zu sagen: Wenn ein Flüchtlingsboot von Afrika kommt und die Menschen in Gefahr sind, müssen sie selbstverständlich gerettet werden! Aber dann müssen sie nicht nach Europa gebracht werden, sondern dorthin, wo sie hergekommen sind. Dort können nach euro­päischen Maßstäben Zeltstädte entstehen. Das ist kein wunder­bares Leben, aber das ist ein Leben in Sicherheit, wo es Ärzte und Krankenhäuser, Bäcker und Schuster gibt. Diese
Flüchtlings­­unterkünfte müssen aufgebaut werden, sie sind ­
eine Übergangslösung so lange, bis die Flüchtenden wieder in ihre Länder zurück können. Wir müssen realistischerweise davon ausgehen, dass vielleicht 60 bis 70 Millionen Menschen am liebsten nach Europa wollten. Dies kann von Europa nicht verkraftet werden. Deswegen: Menschen aus Todesgefahr retten, aber dann zurückbringen in ihre Länder. *Nicht nur in der Bundesrepublik sondern auch in ­Europa wächst die Zahl, die immer kritischer auf das Projekt ­Europa schauen. Rechtspopulisten und ihr Vormarsch sind das eine, das andere aber ist: Die Kluft zwischen politischer Elite und Basis, dem Volk, wird immer größer. Wie ist diese Diskrepanz zwischen Regierten und Regierenden wieder herstellbar, damit das Urvertrauen in die demo­kratischen Entscheidungsträger wiederkehrt?* Die „Elite“ muss eine neue Form der Politik entwickeln, die folgende Elemente enthält: 1. Die unbestreitbaren Erfolge der Globalisierung müssen so ­gesteuert werden, dass davon auch alle Teile der Bürger erreicht werden. Es gibt offenbar Verlierer, die durch das Tempo der Veränderungen überfordert sind, und diesen muss geholfen werden. 2. Die exponentiell steigende Komplexität der Realität des 21. Jahrhunderts muss immer wieder erklärt werden: warum die Zusammenarbeit in Europa heute notwendig ist, warum die Zinsen so niedrig sind und was getan wird, um Sicherheit und Zukunft der Bürger zu stärken. 3. Die Politik muss „empathischer“ in dem Sinne werden, dass sie sich mehr als früher für Wünsche der Bürger aufgeschlossen zeigt, ohne den Wünschen nur nachzulaufen. Reden, Zuhören und Ernstnehmen ist heute noch wichtiger als früher. 4. National und patriotisch fühlenden Bürgern darf dieses Denken nicht verleidet werden, sondern es muss erklärt werden, dass heute dieses Fühlen in größere und langfristig wirkende Zusammenhänge (insbesondere europäische Zusammenarbeit) eingebettet werden muss, nach dem Motto: Eigene nationale Interessen klug vertreten, aber dabei das neue große Ganze nicht gefährden. Das Gespräch führte Stefan Groß

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