„Das Märchen vom lieben Gott“
Vor 100 Jahren, am Tag der dritten Kriegsweihnacht, geschieht auf dem Potsdamer Platz in Berlin Außergewöhnliches. Ein alter Mann verteilt auf Flugblättern mit der Überschrift „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ die zehn Gebote, predigt am Nachmittag des 24. Dezember den Frieden – und gerät in das Räderwerk der Militärdiktatur. Er wird verhaftet und standrechtlich erschossen.

Wenige Tage nach dem merkwürdigen Vorfall auf dem Potsdamer Platz beschließen die Feldherren in Berlin, die Welt mit dem Schwerte in der Hand vor sich in die Knie zu zwingen. Und sie erheben sich selber zum bluttriefenden Götzen, aus dessen selbstherrlicher Hand die Menschheit ihre Gesetze empfangen solle. Plötzlich werden sie gewahr, wie der totgeglaubte, alte Mann mitten unter ihnen auferstanden ist und stumm auf die zehn Gebote weist. Aber niemand schaut auf ihn. Da gibt Gott sich in dem Alten zu erkennen. Doch er muss feststellen, dass man ihn gar nicht kennen will, dass man aus ihm eine prunkende Form gemacht hat, ein goldenes Kalb, das ihn tot anglotzt. Gott flieht vor den Menschen und überlässt sie sich selbst. Verfasser des Friedensappells an Kaiser Wilhelm II. ist der berühmte Worpsweder Maler und Bremer Jugendstilkünstler, nachträglich von ihm „Das Märchen vom lieben Gott – Brief eines Unteroffiziers an den Kaiser im Januar 1918, als Protest gegen den Frieden von Brest-Litowsk“ genannt und am 20. Januar 1918 an das Große Hauptquartier des Kaisers nach Charleville gesandt. Wie kommt Vogeler dazu, den Kaiser persönlich anzusprechen, moralisch zu bewerten und zugleich das Risiko einzugehen, liquidiert zu werden, gewillt, „den Kelch bis zur Neige zu leeren“? Vor dem Ersten Weltkrieg lange Zeit des Bürgers „liebstes Kind“, erfolgsverwöhnt, anerkannt und verträumt, inszenierte er sein Leben zunächst als Kunstwerk – bis die Realität den Ausnahmekünstler einholte und ihn in eine tiefe Krise stürzte. Als Freiwilliger folgte er im August 1914 dem Ruf der Waffen, überzeugt, Deutschland sei von Feinden umringt und von ihnen überfallen. Als „Kriegszeichner“ erlebte er die Grausamkeit des Völkermordens in den Karpaten sowie vor den Schlachtfeldern von Verdun und erkannte, dass „die Militärkaste gar nicht fürs Volk kämpfte, sondern für den Mehrbesitz der Reichen.“ Dabei dachte Vogeler vor allem an die einfachen Soldaten, „die den Mächtigen nur als Kanonenfutter taugen. Es muss endlich Frieden sein. Der Krieg hat mich zu einem glühenden Pazifisten gemacht. Nach all dem Elend, das der Krieg über die Völker gebracht hat, kann Deutschland nur noch ein christlich geprägter Sozialismus helfen.“ Als sich im Oktober 1917 die kriegsgegnerisch orientierte bolschewistische Revolution durchsetzt, sieht er einen Silberstreif am Horizont. Doch statt einer Verständigung diktiert deutscher Eroberungsgeist den „Frieden“ von Brest-Litowsk. Vogeler soll ein Plakat für die Propaganda einer neuen Kriegsanleihe fertigen. Er entscheidet sich, den Befehl zu unterlaufen, skizziert eine niederdeutsche Bäuerin mit Holzschuhen, die sich mit der linken Hand auf einen Spaten stützt und mit der rechten die Augen vor der Sonne schützt. „Zeichnet Kriegsanleihen – Die Heimat ruft!“ steht auf dem Plakat. Der Entwurf lässt durchaus die Interpretation zu, dass die Bäuerin sich nach ihren Söhnen sehnt.