„Wir müssen den ersten Dominostein zu Fall bringen“
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Thomas Pogge kämpft für eine gerechtere Welt. Mit Sören Musyal und Martin Eiermann sprach er über europäische Solidarität, das Paradox der Demokratie und die Zähmung des Kapitalismus.

*The European: Sie leben in den USA. Wie sehen Sie die deutsche Diskussion um Hilfszahlungen an Griechenland?* Pogge: Es besteht eine Spannung zwischen dem Selbstinteresse der Nationen, die eigene Wirtschaft zu stützen und dem Streben, Europa insgesamt wohlhabend zu gestalten. Klar ist: Das ausschließliche Verfolgen von Eigeninteressen schadet dem Kollektiv. Wenn kleine Opfer routinemäßig praktiziert werden, dann ist das Kollektiv insgesamt rational. Doch wenn sich alle schon vorher darauf einstellen, dass ihnen unter die Arme gegriffen wird, dann sind die Konsequenzen irrational. *The European: Wie definieren Sie Solidarität?* Pogge: Innerhalb Europas geht es darum, die Durchschnittseinkommen der Staaten einigermaßen anzupassen. Auf der individuellen Ebene ist Solidarität der Versuch, durch eigenes Handeln in Europa oder auch in der Welt die wichtigsten und schlimmsten Deprivationen abzustellen und zu überwinden. *The European: In Europa wird um die Idee einer europäischen Identität gerungen. Glauben Sie daran, dass die EU ohne einen solchen Narrativ überleben kann?* Pogge: Die Vision von Europa war immer, das Identitätsmonopol des Nationalismus und des Patriotismus zu überwinden und auf einer übergeordneten Ebene eine zusätzliche Identifizierungsoption anzubieten. Es wäre dystopisch, wenn die Menschen sich jetzt als Europäer sehen und gegen alles abschotten, was außerhalb Europas liegt. Dadurch würden sich Ungleichheiten auf der Welt noch verstärken. *The European: Sie reden im Konjunktiv...* Pogge: Wir können diese Abschottung teilweise beobachten, vor allem in der Wirtschaftspolitik. International gesehen ist die EU eine treibende Kraft in Richtung Ungerechtigkeit. Schauen Sie sich supranationale Regeln an: Europa verfolgt sein kollektives Interesse und oktroyiert Entwicklungsländern zum Beispiel verstärkte geistige Eigentumsrechte, die allein dem Vorteil Europas dienen. *The European: Und ihre Antwort darauf?* Pogge: Es wäre gut, wenn die EU sich als Teil eines vielschichtigen Systems verstehen würde, das oben mit wirklich globalen Regelungen und Organisationen (wie der WTO und der UN) abschließt, die auf globale Gerechtigkeit angelegt sind. Die EU sollte sich nicht als Mega-Nationalstaat verstehen, dessen außenpolitische Aufgabe darin besteht, solche globalen Institutionen im Interesse nur der Europäer zurechtzubiegen. *The European: Wie definieren Sie Gerechtigkeit?* Pogge: Die schwache Antwort mit dem größeren Konsens ist das Bekenntnis zu den Menschenrechten. Wir müssen die supranationalen Institutionen, die Regeln, die Praktiken, die Wirtschaftsregeln so einrichten, dass sie die Menschenrechtsdefizite möglichst gering halten. Das ist eine Minimalbedingung. Gegenwärtig tun sie dies nicht, aber in einer reichen Welt ist das nicht zu viel verlangt. Die starke Antwort wären gewisse Gleichheitsstandards. Die Armen der Welt müssen die Chance haben, proportional am Wirtschaftswachstum der Welt beteiligt zu werden. Heute ist es doch so, dass die Regeln von den mächtigen Akteuren und ihren Lobbygruppen bestimmt werden und die Interessen des Rests ignorieren. Nicht, weil man die Armen hasst, sondern weil man sich halt nicht mit ihnen, sondern nur mit anderen Reichen arrangieren muss.