„Wir brauchen ein gehirnkompatibles Rechtssystem“
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Wie viel freien Willen hat ein Verbrecher? Lars Mensel sprach mit dem Neurowissenschaftler David Eagleman über die Vorhersage von kriminellem Verhalten, attraktive Psychopathen und das Gehirn von Anders Behring Breivik.

*The European: In "Ihrem Buch":http://pantheon.knopfdoubleday.com/2011/06/01/incognito-david-eagleman/ beschreiben Sie, wie das bewusst Erlebte tatsächlich nur ein winziger Teil der Prozesse ist, die in unserem Gehirn ablaufen. Daraus schließen Sie, dass auch die Fähigkeit einer Person, bewusste Entscheidungen zu treffen, von vielen Faktoren abhängt, auf die wir nicht unbedingt Einfluss haben. Treffen wir unsere Entscheidungen also alle nach anderen Kriterien?* Eagleman: Ganz genau. Gehirne sind wie Fingerabdrücke – in der Hinsicht, dass sie für jede Person ganz anders sind. Ein Teil des Problems ist es, dass wir immer davon ausgehen, jeder denke so wie wir. Sicher, als Spezies ist das insgesamt richtig: Es gibt einen Kreis von allgemeiner Kooperation. Manche Menschen sind Künstler, manche Buchhalter, manche Demokraten oder Republikaner – aber sie sind sogar innerhalb dieser Kreise sehr unterschiedlich. Nehmen Sie nur jemanden wie "Anders Breivik":http://www.theeuropean.de/alexander-kissler/7496-der-massenmord-zu-oslo in Norwegen, sein Gehirn ist anatomisch genauso wie Ihres, es hat die gleichen Elemente und Bestandteile, aber es hat auch fundamentale Unterschiede. Neurologisch kann man sich daher nicht in ihn hineinversetzen und wissen, wie es ist, er zu sein – denn das Innere der Menschen ist sehr unterschiedlich. *The European: Aber wenn Menschen wie Breivik auf so andere Art und Weise denken, wie entsteht dieser Unterschied?* Eagleman: Die Entwicklung des Gehirns ist eine komplexe Interaktion von Genen und Umgebung: Alle Gene, die man von Geburt an mitbringt, sowie jede Erfahrung, die man jemals macht – inklusive dessen, was im Mutterleib geschieht. Dazu kommen alle Kindheitserfahrungen, ob etwa die Wand mit bleihaltiger Farbe gestrichen ist, Giftstoffe in der Luft oder so etwas wie Missbrauch oder Drogen. All diese Dinge können die Richtung beeinflussen, in die sich das Gehirn entwickelt. Deswegen ist das Endergebnis sehr individuell – ein wenig wie Schneeflocken, bei denen bereits der kleinste Unterschied in Wind und Temperatur die Form ein klein wenig verändert.