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> Geheimnisse sind Teil des sozialen Ichs

Unter einer Decke stecken

Den wahren Wert von Geheimnissen verraten uns weder Staaten noch Transparenzfanatiker, sondern Kinder und ihre Tagebücher.

The European

Als berufstätige Mutter habe ich weder die Zeit noch ausreichend Kreativität, um mir für jede Freundin meiner Tochter ein Geburtstagsgeschenk zu überlegen. Lieber suche ich also nur ein Geschenk und kaufe dieses gleich mehrfach. Dieses Jahr werden ihre Freundinnen sieben Jahre alt, und das Geschenk der Stunde ist ein geheimes Tagebuch. Die Mädchen sind entzückt – und ihre Mütter berichten von emsigen Schreibaktivitäten unter der Bettdecke, wo die privaten Aufzeichnungen ihrer Töchter nur vom Licht der Taschenlampe erhellt werden. Der Erfolg dieses Geschenks war allerdings kein Glück, sondern ein wohlüberlegter Schritt von mir. Ich kenne ihre spezielle Anziehungskraft. Geheimnisse können sich ungezogen, gefährlich oder aufregend anfühlen. Deswegen sollte man sie aber nicht als unerlaubtes Vergnügen abtun – nein, sie sind ein notwendiger Teil des sozialen Ichs.

Grenze zwischen sich und anderen ziehen
Wissenschaftliche Studien bestätigen deshalb, was Eltern instinktiv wissen: Geheimnisse spielen eine wichtige Rolle für die Kindesentwicklung. Die Fähigkeit, ein Geheimnis zu bewahren, gilt nicht nur als wichtige Etappe des Erwachsenwerdens. Sie lehrt auch, eine Grenze zwischen sich und anderen zu ziehen. Es ist ein gewaltiger Schritt für Kinder, zu begreifen, dass sie andere Informationen als ihre Eltern besitzen können. Es demonstriert, dass wir unterschiedlich sind, unsere eigenen Gedanken und Gefühle haben sowie einen Einfluss darüber, zu wem oder was wir eigentlich gehören. Noch wichtiger ist aber, dass Geheimnisse ein intensives Unabhängigkeitsgefühl vermitteln. An der namhaften Londoner Schauspielschule RADA lernen Studenten einen kleinen Trick, um das Lampenfieber zu besiegen: Bevor sie auf die Bühne gehen, sollen sie den Satz „Jemand liebt mich, und ich habe ein Geheimnis“ aufsagen. Und jeder Superheld, der tagsüber einem normalen Job nachgeht, könnte bestätigen, dass Geheimnisse ebenso mächtig sind wie Superkräfte. Macht kann immer missbraucht werden. Diese simple Einsicht bringt uns zu den Schattenseiten von Geheimnissen, mit denen wir vielleicht viel vertrauter sind. Ein Geheimnis zu haben, bedeutet auch, dass andere möglicherweise Geheimnisse vor uns haben – oder sogar über uns. Die Welt der Geheimnisse enthält neben Gefühlen von Macht, Kontrolle und Selbstbestimmung auch Angst und Hilflosigkeit. Während Kinder noch spielerisch mit diesen Nachteilen umgehen, hat unsere Gesellschaft ein riesiges Repertoire von Erzählungen und technischen Hilfsmitteln konstruiert. Beispielsweise erfinden wir umfassende Verschwörungstheorien, um ein Wirtschaftssystem zu erklären, das den Zugang zum „Geheimnis“ des Erfolgs vor der Mehrheit von uns verschlossen hält. Oder wir lästern über einen Kollegen, der vorgibt zu wissen, wie unser Chef wirklich über uns denkt. Manche entscheiden sich für totale Offenheit und verraten über die sozialen Netzwerke absolut alles über sich – in der Hoffnung, andere würden es ihnen gleichtun. Ihnen gegenüber steht der „Facebook-Selbstmörder“, der das Benutzerkonto löscht, um die eigenen Spuren im Netz zu verwischen. Oder sie nutzen Suchmaschinen, die ihre Suchanfragen geheim halten. Wir alle kennen den Machtmissbrauch, der ein Teil von Geheimhaltung sein kann, und wurden im Zuge der NSA-Spionageaffäre täglich daran erinnert. Doch trotz aller schlechten Presse, die das Geheimnis momentan bekommt, finde ich, ist die Zeit reif für eine Neuauflage des Geheimnisses. Warum sollten wir das Geheimnis also nur dem Staat überlassen, der oft genug bewiesen hat, dass er unser Vertrauen nicht verdient? So würden wir all die positiven Aspekte der Geheimhaltung verpassen.
Geheimhaltung als Voraussetzung für Innovation
Das Geheimnis kann nicht nur das Gefühl von Unabhängigkeit oder Produktivität vermitteln, es spielt vielerlei Rollen. Beispielsweise im kreativen Prozess: Geheimhaltung ist eine Voraussetzung für Innovation. Sie ist ein toter Winkel, in dem ohne ständige Analyse und Kritik gearbeitet werden kann. Damit Neues entstehen kann, müssen Fehler ohne Konsequenzen erlaubt sein. Das wahrhaft Neue darf nicht durch äußere Einflüsse verhindert werden. Und eine Vision muss manchmal geheim bleiben, bis sie mit Selbstvertrauen vertreten werden kann. In jedem kreativen Prozess gibt es eine solche Phase, in der zu viele Köche den Brei verderben. Auch an der Schule oder Universität ist totale Transparenz nicht unbedingt erwünscht: In sokratischer Tradition gebe ich mein Wissen nicht in transparenter Form weiter, sondern lasse meine Studenten lieber durch Dialog und Ausprobieren zu eigenen Erkenntnissen gelangen. Meine Geheimnisse werden so neu entdeckt, oft auch mit lehrreichen Einsichten für mich selbst. Ein Freund von mir ist Psychotherapeut und findet es hilfreich, persönliche Informationen im Patientengespräch zunächst für sich zu behalten. Damit möchte er verhindern, dass Hürden für die Heilung und den Wissenstransfer entstehen. Er zitiert gerne Freud: „Ein Arzt sollte für seine Patienten undurchsichtig wie ein Spiegel sein und ihnen nur das zeigen, was ihm gezeigt wird.“ Deswegen kann sich die Psychoanalyse nicht an die sozialen Spielregeln eines Gesprächs halten, bei dem Vertrauen eigentlich das Vertrauen des Gegenübers verdient. Denn die Preisgabe von Informationen über den Psychotherapeuten könnte Prozesse verhindern, welche Geheimnisse aufdecken, die für den Patienten unbewusst sind. Etwas „Gutes“ geschieht, und eine „Heilung“ findet statt – gerade weil etwas geheim gehalten oder nicht ausgesprochen wurde. Für Staaten und Transparenzfanatiker mögen Geheimnisse die Währung geopolitischer Macht sein. Es ist an der Zeit, das Geheimnis für uns zurückzugewinnen und für soziale Zwecke einzusetzen. _Übersetzung aus dem Englischen_
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